Sehr leb­haft er­in­ne­re ich mich an die Mo­zart-Sen­sa­ti­on des Jah­res 1990: In Phil­adel­phia ent­deck­te eine Bi­blio­the­ka­rin beim Staub­wi­schen ein Mo­zart-Au­to­graph. Nicht „ir­gend­ei­nes“, son­dern Mo­zarts kom­plet­te Hand­schrift sei­ner si­cher­lich be­deu­tends­ten Kla­vier­so­na­te (c-moll KV 457 mit Fan­ta­sie KV 475). Über Sothe­by’s kam die Hand­schrift 1990/91 in den Be­sitz der In­ter­na­tio­na­len Stif­tung Mo­zar­te­um, wo sie seit­her das be­deu­tends­te Stück der Au­to­gra­phen­samm­lung bil­det. Au­ßer­dem wurde sei­ner­zeit eine schö­ne, heute lei­der ver­grif­fe­ne, Fak­si­mi­le-Aus­ga­be der gan­zen Hand­schrift her­aus­ge­bracht.

Ich hatte da­mals ge­ra­de als Lek­tor beim G. Henle Ver­lag an­ge­fan­gen und stand vor der reiz­vol­len Auf­ga­be, zu­sam­men mit dem Her­aus­ge­ber Dr. Ernst Herttrich un­se­ren No­ten­text an­hand die­ser bis­lang ver­schol­le­nen, wahr­haft erst­ran­gi­gen Quel­le zu über­prü­fen. Unser da­ma­li­ger No­ten­text ba­sier­te im We­sent­li­chen auf der 1785 er­schie­ne­nen Erst­aus­ga­be (beim Ver­lag Ar­ta­ria in Wien).

Sie wer­den sich jetzt wahr­schein­lich fra­gen: Was wird bei so einem Ver­gleich schon Be­son­de­res her­aus­kom­men? Das Werk wird doch im Au­to­graph kei­nen we­sent­lich an­de­ren Text auf­wei­sen als in der Erst­aus­ga­be, zumal die­ser „Ur-Druck“ von Mo­zart ja au­to­ri­siert war? Ich kann Ihnen nicht in Pro­zent­zah­len ant­wor­ten, aber glau­ben Sie mir: Mehr als 200 Jahre lang muss­ten Pia­nis­ten mit einem nicht 100% kor­rek­ten No­ten­text vor­lieb neh­men. Ein­fach des­halb, weil eine der wich­tigs­ten Quel­len bis dahin ver­schol­len war.

Was ich da­mals schlag­ar­tig und für mich neu lern­te: „Ur­text“ be­deu­tet nicht – wie ich an­nahm –, ein für immer und alle Zei­ten gül­ti­ger No­ten­text. Ein ver­ant­wor­tungs­vol­ler Um­gang mit „Ur­text“ be­deu­tet viel­mehr, alle Chan­cen für eine be­stän­di­ge Op­ti­mie­rung des Tex­tes zu su­chen und zu nut­zen. Das ist das er­klär­te, prin­zi­pi­el­le Ziel des G. Henle Ver­lags. Taucht bei­spiels­wei­se un­ver­hofft aus den Tie­fen der Über­lie­fe­rungs­schich­ten eine erst­ran­gi­ge Quel­le auf, so wie Mo­zarts Au­to­graph, muss der vor­han­de­ne Ur­text mit der neuen Quel­le ver­gli­chen, re­vi­diert und ge­ge­be­nen­falls neu ge­druckt wer­den. Es ge­hör­te üb­ri­gens auch zu mei­nen ers­ten Er­fah­run­gen, dass die meis­ten an­de­ren Ver­la­ge nicht so den­ken und han­deln: Von der sen­sa­tio­nel­len Quel­le KV 457/475 und ihrem text­kri­ti­schen Wert wurde auf dem No­ten­markt bis heute kaum Notiz ge­nom­men. Es wird immer und immer wie­der der schlech­te­re Text nach­ge­druckt…

Die Erst­aus­ga­be von KV 457/475 ent­hält tat­säch­lich ei­ni­ge we­ni­ge von Mo­zart un­be­merkt ge­blie­be­ne No­ten­feh­ler sowie Un­ge­nau­ig­kei­ten in Dy­na­mik und Ar­ti­ku­la­ti­on. „Ein­schnei­den­de Än­de­run­gen im No­ten­text er­ga­ben sich durch die neue Quel­len­si­tua­ti­on nicht“ (heißt es im Vor­wort un­se­rer re­vi­dier­ten Aus­ga­be von Fan­ta­sie und So­na­te c-moll: HN 345). Auf einer ein­zi­gen Druck­sei­te konn­ten wir im neuen Hen­le-Ur­text sämt­li­che in­ter­es­san­ten Punk­te zu­sam­men­fas­sen. Also zu­ge­ge­ben: Durch so eine Re­vi­si­on ent­steht frei­lich kein „neuer Mo­zart“. Aber frag­los doch ein im De­tail bes­se­rer, weil kor­rek­te­rer Mo­zart.

KV 457, 2. Satz, Takt 51

Las­sen Sie mich eine ein­zi­ge un­se­rer ver­bes­ser­ten Stel­len kon­kret her­aus­grei­fen. Ich wähle dazu Takt 51 des lang­sa­men Sat­zes. Eine be­son­ders span­nen­de Stel­le, weil sie ers­tens in kei­ner an­de­ren bis­he­ri­gen Mo­zart-Aus­ga­be er­kannt und kom­men­tiert wurde (selbst nicht im vor­züg­li­chen Kri­ti­schen Be­richt der Neuen Mo­zart-Aus­ga­be) und weil sie, zwei­tens, gar keine Feh­ler­kor­rek­tur im en­ge­ren Sinne dar­stellt, son­dern das Mus­ter­bei­spiel eines Les­ar­ten­kon­flikts dar­stellt.

Es han­delt sich um jene auf­fäl­li­ge Stel­le im Schluss­teil (Epi­log) des lang­sa­men Sat­zes, wo es nach einer rasch vom Spit­zen­ton b2 her­ab­stür­zen­den Es-dur-Ton­lei­ter tief, sehr tief hin­un­ter in den Bass­be­reich geht:

In Mo­zarts Hand­schrift sieht das wie folgt aus:

Es geht um die linke Hand, ge­nau­er: um die viert­letz­te 16­tel-No­te. Sie lau­tet in Mo­zarts Au­to­graph F und nicht As. Die­ses F fin­det man in allen Mo­zart-Aus­ga­ben. Es steht auch be­reits in der Erst­aus­ga­be von 1785. Warum hat dann die neue Ur­text­aus­ga­be von Henle As (mit einer Fuß­no­te zur Er­läu­te­rung der Stel­le)?

Ein be­son­de­res Fas­zi­no­sum am Au­to­graph der c-moll-So­na­te KV 457 ist der Um­stand, dass Mo­zart den lang­sa­men Satz zwei­mal, ei­gent­lich sogar drei­mal no­tiert hat (was man frei­lich nicht wuss­te, bevor die Hand­schrift auf­tauch­te). Er schrieb das Es-dur-Ada­gio zu­nächst in einer un­ver­zier­ten, gleich­wohl voll­gül­ti­gen Ver­si­on, wobei er die bei­den The­men­re­pri­sen (T. 18 – 25 und 41 – 48) nur als „Da Capo“ angab [also an bei­den Stel­len soll wört­lich T. 1 – 8 wie­der­holt wer­den]. Dar­auf fol­gen die Epi­log­tak­te 49 bis Ende.

Und in die­ser ers­ten Ver­si­on des Epi­logs steht an der frag­li­chen Stel­le As statt F:                          

Spä­ter no­tier­te Mo­zart die bei­den The­men­re­pri­sen in einer ver­zier­ten, zwei­ten Fas­sung. (Üb­ri­gens ist diese hoch in­ter­es­san­te Ver­zie­rungs-Zwi­schen­stu­fe bis heute in kei­ner No­ten­aus­ga­be der c-moll-So­na­te ab­ge­druckt wor­den.) Die Mo­zart-For­schung ver­mu­tet zu Recht, diese Fas­sung (auf einer Ex­tra­sei­te [= 15 im oben ge­nann­ten Fak­si­mi­le]) sei als Übungs­stu­die für Mo­zarts Kla­vier­schü­le­rin The­re­se von Tratt­ner (1758–1793) auf­ge­schrie­ben wor­den, damit sie lerne, wie man ge­schickt im­pro­vi­sie­rend Ver­zie­run­gen (und ab­wechs­lungs­rei­che Dy­na­mik) an­brin­gen könne. The­re­se von Tratt­ner ist die So­na­te ge­wid­met, wie man dem Ti­tel­blatt der Erst­aus­ga­be und einer Ko­pis­ten­ab­schrift ent­neh­men kann. In die­ser Ko­pis­ten­ab­schrift fin­den sich nicht nur Kor­rek­tur­ein­tra­gun­gen von Mo­zarts Hand, son­dern auch eine ei­gen­hän­di­ge Wid­mung auf dem Ti­tel­blatt:

Der No­ten­text der Ko­pis­ten­ab­schrift folgt ge­treu der (un­ver­zier­ten) Ur­fas­sung. An un­se­rer frag­li­chen Stel­le steht, wie zu er­war­ten, er­neut das As.

Die drit­te hand­schrift­li­che Fas­sung der Re­pri­sen no­tier­te Mo­zart dann wie­der spä­ter auf einem Ex­tra­blatt [17], ver­mut­lich im Zu­sam­men­hang mit der ge­plan­ten Druck­le­gung. Die­ses Notat ent­hält auch eine über­ar­bei­te­te Fas­sung der Epi­log­tak­te – und jetzt, erst­mals, tritt das F in der lin­ken Hand von Takt 51 auf (siehe Ab­bil­dung 2). Die­ser Text fin­det sich dann – cum grano salis – als No­ten­text der be­kann­ten Druck­fas­sung (Ar­ta­ria 1786) wie­der, ein­schließ­lich des F statt As.

Fas­sen wir die sich wi­der­spre­chen­den Les­ar­ten von Takt 51, viert­letz­te Note, linke Hand zu­sam­men:

F : Drit­te au­to­gra­phe Fas­sung + Erst­aus­ga­be

As : Erste au­to­gra­phe Fas­sung + Tratt­ner-Ko­pie

Woll­ten wir den Fall mit einem Rechts­streit ver­glei­chen, herrscht eine Patt­si­tua­ti­on, denn zwei Aus­sa­gen ste­hen zwei kon­trä­ren ge­gen­über: F oder As – ein Fall für den Rich­ter. Hören wir die Plä­doy­ers.

Pro F: Bei der Be­wer­tung der Quel­len muss be­ach­tet wer­den, dass Mo­zart das F nicht nur chro­no­lo­gisch spä­ter als das As no­tier­te – also viel­leicht darin sei­nen „letz­ten Wil­len“ die­ser Stel­le zum Aus­druck brach­te –, son­dern auch noch das F beim Kor­rek­tur­le­sen in der Erst­aus­ga­be un­ver­än­dert ste­hen ließ. Au­ßer­dem kann man auch in mu­si­ka­li­scher Hin­sicht nichts gegen das F sagen; es ent­spricht den Ton­satz­re­geln und klingt nicht falsch.

Pro As: Das As ist rein mu­si­ka­lisch be­trach­tet der bes­se­re Ton, weil mit dem F eine klang­lich un­schö­ne Ver­dopp­lung mit der Vier­tel­no­te f der rech­ten Hand ent­steht. Das As ist auch hin­sicht­lich des Stimm­ver­laufs lo­gi­scher, weil es die Ak­kord­struk­tur des vor­aus­ge­hen­den Ak­kords fol­ge­rich­tig fort­setzt (C+Es+cAs+C+as statt: As+C+f). Bei allen ver­zier­ten Va­ri­an­ten hat Mo­zart aus­schließ­lich die rech­te Hand im Auge, die linke bleibt (na­he­zu durch­ge­hend) völ­lig un­ver­än­dert. Warum soll­te also Mo­zart das mu­si­ka­lisch gute ur­sprüng­li­che As spä­ter ab­sichts­voll zu einem mu­si­ka­lisch schlech­te­ren F ab­wan­deln, noch dazu in der „un­wich­ti­ge­ren“ lin­ken Hand? Er un­ter­rich­te­te seine Schü­le­rin Tratt­ner aus der Wid­mungs­ko­pie, in der er nicht etwa das As zu F kor­ri­gier­te (eine an­de­re No­ten­stel­le aber schon). Mo­zart kann sich bei der er­neu­ten Nie­der­schrift (Fas­sung drei) in Takt 51 leicht ver­schrie­ben haben (Terz­ver­schrei­bung), was dann zwangs­läu­fig in den ge­druck­ten No­ten­text der Erst­aus­ga­be ge­lang­te (und von da 200 Jahre lang in alle No­ten­hef­te). Man weiß, dass Mo­zart nie oder nur sel­ten Pro­be­ab­zü­ge Kor­rek­tur las, wes­halb es ver­ständ­lich ist, dass er keine Plat­ten­kor­rek­tur vor dem Druck ver­an­lass­te. Die Erst­aus­ga­be ent­hält über­dies ei­ni­ge wei­te­re, sogar of­fen­sicht­li­che­re un­kor­ri­gier­te Stich­feh­ler, wes­halb er­wie­sen ist, dass er KV 457/475 nicht Kor­rek­tur las.

Der Her­aus­ge­ber der Hen­le-Ur­text­aus­ga­be (in sei­ner Funk­ti­on als „Rich­ter“) hat sich für das As ent­schie­den. Damit sich die Nut­zer un­se­rer Aus­ga­be aber eine ei­ge­ne Mei­nung bil­den kön­nen, wurde eine er­läu­tern­de Fuß­no­te an­ge­bracht. Der Les­art­kon­flikt, ver­ur­sacht durch Mo­zart selbst, tauch­te als Pro­blem erst auf, nach­dem Mo­zarts Hand­schrift 1990 aus ihrem Dorn­rös­chen­schlaf unter Staub­schich­ten wie­der ent­deckt wurde. Der Kon­flikt und seine Dis­kus­si­on be­rei­chern den Ur­text und damit auch jeden in­ter­es­sier­ten Mu­si­ker.

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Post­scrip­tum: Aus An­lass der Ver­öf­fent­li­chung sämt­li­cher 18 Mo­zart-So­na­ten in wohl­fei­len Ein­zel­aus­ga­ben zum Früh­jahr 2012 haben wir einen um­fang­rei­chen Spe­zi­al­bei­trag mit wert­vol­len In­for­ma­tio­nen (u. a. zu jeder So­na­te fas­zi­nie­ren­de YouTube-Links) zu Mo­zarts So­na­ten zu­sam­men­ge­tra­gen, siehe www.​henle.​de/​mozart-​kla​vier​sona​ten.

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Eine Antwort auf »Wie ein originales Mozart-As aus dem Staub gerettet wurde. Zum langsamen Satz der c-moll-Klaviersonate KV 457«

  1. Mario sagt:

    Beide Versionen sind gut,
    nach C+Es+c → As+C+as kommen zu lassen, klingt dennoch etwas
    hölzern. Das As klingt irgendwie zu hell, man hört die Oberstimme
    besser mit dem F.

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