Ein Blick ins In­halts­ver­zeich­nis un­se­rer Ur­text­aus­ga­be der Wal­zer Frédéric Cho­pins (HN 131, 230, 9131) mag schon bei man­chem Cho­pin-En­thu­si­as­ten Stirn­run­zeln her­vor­ge­ru­fen haben. So be­rühm­te Stü­cke wie die erst nach Cho­pins Tod ver­öf­fent­lich­ten Wal­zer op. post. 69 & 70 brin­gen wir in zwei Ver­sio­nen: zu­nächst in einer „Fas­sung nach dem Au­to­graph“, ge­folgt von einer „Fas­sung nach Fon­ta­na“.

Reicht die au­to­graph über­lie­fer­te Fas­sung nicht aus? Was kann denn „mehr“ Ur­text sein als eine Ver­si­on, die auf der Hand­schrift des Kom­po­nis­ten be­ruht? Und – wer ist über­haupt Fon­ta­na?

Ju­li­an Fon­ta­na (1810–1869) war ein Schul­freund Cho­pins aus War­schau­er Tagen. Die bei­den hat­ten sich am Ly­ze­um ken­nen ge­lernt, er­hiel­ten beide Kom­po­si­ti­ons­un­ter­richt bei Józef Els­ner und pfleg­ten ihre Freund­schaft auch über die Schul- und Stu­den­ten­zeit hin­aus. Mit Fon­ta­na zu­sam­men führ­te Cho­pin 1828 in War­schau sein Rondo C-dur op. post. 73B in der Fas­sung für zwei Kla­vie­re auf. Der glü­hen­de Pa­tri­ot Fon­ta­na nahm 1830 am War­schau­er No­vem­ber­auf­stand teil und muss­te nach des­sen Nie­der­schla­gung aus Polen flie­hen. Es be­gann eine wahr­haf­ti­ge Odys­see mit Auf­ent­hal­ten in Paris, Ham­burg, Lon­don, Bor­deaux, Ha­van­na und New York. In sei­nen Pa­ri­ser Jah­ren 1832/33 und 1836–41 lag es nahe, Kon­takt mit dem eben­falls nach Paris emi­grier­ten Cho­pin auf­zu­neh­men, und ihre Freund­schaft ver­tief­te sich. Fon­ta­na avan­cier­te zu einer Art Pri­vat­se­kre­tär des Kom­po­nis­ten. Cho­pin ver­trau­te ihm zahl­rei­che Au­to­gra­phe mit der Bitte an, sie ab­zu­schrei­ben, er trug ihm Ver­hand­lun­gen mit Ver­le­gern auf und bat ihn um Hilfe bei all­täg­li­chen An­ge­le­gen­hei­ten (bis hin zur Woh­nungs­su­che). Ob sich Cho­pin bei sei­nem wich­tigs­ten Ko­pis­ten je­mals an­ge­mes­sen re­van­chier­te, ist nicht be­kannt. Im­mer­hin wid­me­te er ihm seine bei­den Po­lo­nai­sen op. 40: dédiées à son ami Jules Fon­ta­na.

Es mag zy­nisch klin­gen, aber Fon­ta­nas große Stun­de kam erst, nach­dem sein Freund Cho­pin ge­stor­ben war: Er gab nun die un­ver­öf­fent­lich­ten Werke Cho­pins in Druck. Dabei ging er durch­aus pro­fes­sio­nell und ge­wis­sen­haft vor. Er stand in engem Kon­takt mit der Fa­mi­lie des Ver­stor­be­nen; Lud­wi­ka, Cho­pins Schwes­ter, legte für ihn ein Ver­zeich­nis der un­ver­öf­fent­lich­ten Kom­po­si­tio­nen an.

(Lud­wi­ka Je­drze­je­wicz, Kom­po­zy­cje nie­wy­da­ne – Un­ver­öf­fent­lich­te Kom­po­si­tio­nen, In­cipt-Ver­zeich­nis von 35 Kom­po­si­tio­nen Cho­pins, Au­to­graph, War­schau, nach Juni 1854, mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung der Samm­lung des Cho­pin Mu­se­ums am Fry­de­ryk Cho­pin In­sti­tut, War­schau. Ei­gen­tum des Ori­gi­nals: Fry­de­ryk Cho­pin Ge­sell­schaft, War­schau, In­ven­tar-Num­mer M/301. Links neben dem In­ci­pit je­weils der Titel, ganz links die Da­tie­rung durch Lud­wi­ka, z. B. beim ers­ten Ein­trag 827 für 1827).

Fon­ta­na ver­gab die Opus­zah­len 66–73 und ver­öf­fent­lich­te 1855 die Œuvres post­hu­mes pour piano de Frédéric Cho­pin (1859 folg­ten die Lie­der op. 74). Das Ti­tel­blatt soll­te un­miss­ver­ständ­lich für die Au­then­ti­zi­tät der Edi­ti­on bür­gen: publiés sur ma­nu­scrits ori­gin­aux avec au­to­ri­sa­ti­on de sa fa­mil­le.

Im Vor­wort die­ser Aus­ga­be, die par­al­lel in Deutsch­land (Schle­sin­ger) und Frank­reich (Meis­son­nier) er­schien, legt Fon­ta­na aus­führ­lich dar, wie es zu die­ser Pu­bli­ka­ti­on kam. Cho­pins Fa­mi­lie habe ge­glaubt, „eine hei­li­ge Pflicht zu er­fül­len, wenn sie eine ge­naue Aus­ga­be nach den ei­gen­hän­di­gen Ma­nu­scrip­ten des Com­po­nis­ten ver­an­stal­te­te […]“ Es folgt eine Kurz­bio­gra­phie, die Fon­ta­nas Freund­schaft zu Cho­pin und seine Be­tei­lung bei vie­len Erst­aus­ga­ben ins rech­te Licht rü­cken soll. Fon­ta­na fährt fort: „Seine Fa­mi­lie, mit die­sen freund­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen be­kannt, gab uns den eh­ren­vol­len Auf­trag, die von ihm hin­ter­las­se­nen mu­si­ka­li­schen Schät­ze zu sam­meln, eine Aus­wahl zu tref­fen, und sie zu ver­öf­fent­li­chen.“ Fon­ta­na be­tont noch ein­mal, er habe die „Ori­gi­nal­ma­nu­scrip­te“ zur Grund­la­ge der Edi­ti­on ge­macht. Au­ßer­dem habe er Cho­pin die Werke spie­len ge­hört und sie auch selbst unter des­sen An­lei­tung stu­diert. Daher: „Die­ser letz­te Um­stand war uns eine große Hülfe, wenn wir zwi­schen zwei oder drei Les­ar­ten, alle von der Hand Cho­pin’s, zu wäh­len, oder eine oft un­les­ba­re Schrift zu ent­zif­fern hat­ten.“

Genau an die­ser Stel­le be­gin­nen die Pro­ble­me, die wir heute mit Fon­ta­nas Aus­ga­be haben. Es ist zu ver­mu­ten, dass er ab und an ein wenig zu selbst­be­wusst in den No­ten­text ein­griff. Das Di­lem­ma ist also: Wo hört Cho­pin auf und wo be­ginnt Fon­ta­na?

Zu ei­ni­gen der Werke ken­nen wir heute Au­to­gra­phe Cho­pins. In der Tat wei­chen sie zum Teil er­heb­lich von den Fas­sun­gen der Fon­ta­na-Aus­ga­be ab. Man mag nun den­ken, dies sei der Be­weis, Fon­ta­na habe den au­to­gra­phen Ur­text ver­fälscht.

Dem steht Fon­ta­nas Selbst­zeug­nis ent­ge­gen, seine Au­to­ri­sie­rung durch die Fa­mi­lie Cho­pins und die Be­ru­fung auf die „Ori­gi­nal­ma­nu­scrip­te“. Wir müs­sen daher zu­min­dest die Mög­lich­keit in Be­tracht zie­hen, dass Fon­ta­na auf heute ver­schol­le­ne Quel­len zu­rück­griff. Mög­li­cher­wei­se waren dies Au­to­gra­phe, die den No­ten­text in der Fas­sung „letz­ter Hand“ über­lie­fern. Dann wären die Au­to­gra­phe, die wir heute ken­nen, le­dig­lich Vor­sta­di­en.

So­lan­ge nicht das Ge­gen­teil be­wie­sen ist, sind wir dahr gut be­ra­ten, auch wei­ter­hin beide Fas­sun­gen zur Kennt­nis zu neh­men.

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