Vor kur­zem wur­den wir auf einen ver­meint­li­chen Feh­ler in un­se­rer Ur­text­aus­ga­be HN 28 der „Sechs Par­ti­ten“ von Jo­hann Se­bas­ti­an Bach (BWV 825-830) auf­merk­sam ge­macht: In der Cor­ren­te der ers­ten Par­ti­ta in B-dur stün­de zur letz­ten Note der lin­ken Hand in Takt 12 irr­tüm­lich ein ♮.

Bachs Par­ti­ten er­schie­nen bei uns vor über 60 Jah­ren, näm­lich 1952 (her­aus­ge­ge­ben von Ru­dolf Ste­g­lich, 1886-1976). Sie wur­den des­halb schon sehr oft nach­ge­druckt, et­wai­ge be­kannt­ge­wor­de­ne Feh­ler­kor­rek­tu­ren in­klu­si­ve. 1970 hatte Ste­g­lich den Band noch­mals kri­tisch durch­ge­se­hen und ein neues Vor­wort ver­fasst, 1979 dann, nach­dem die vor­züg­li­che Ur­text­aus­ga­be im Rah­men der Neuen Bach-Aus­ga­be (her­aus­ge­ge­ben von Ri­chard Dou­glas Jones) er­schie­nen war, ein wei­te­res Mal durch unser Lek­to­rat, denn Ste­g­lich war in­zwi­schen ver­stor­ben.

Ein Feh­ler in solch einem „Schlacht­ross“ des Henle Ver­lags? Kaum zu glau­ben. Ein Fall für den Gang in unser um­fang­rei­ches Quel­len- und No­ten­ar­chiv zur Über­prü­fung des Be­fun­des!

Erste Über­ra­schung: Erst seit einem 1997 statt­ge­fun­de­nen Nach­druck brin­gen wir diese Stel­le mit ♮, vor­her immer ohne. Da­mals hatte uns ein Cem­ba­list kon­tak­tiert mit dem Hin­weis, dass un­se­re Aus­ga­be hier einen Stich­feh­ler habe: es müsse doch ♮H hei­ßen. Also ein kon­trä­rer Kom­men­tar zum ak­tu­el­len. Mein da­ma­li­ger Kol­le­ge hat den Sach­ver­halt genau ge­prüft und sich dann tat­säch­lich für die Kor­rek­tur ent­schie­den, al­ler­dings mit der wich­ti­gen Zu­satz­be­mer­kung im Kri­ti­schen Be­richt (und dem oben zu se­hen­den ein­ge­krin­gel­ten „1a“): „Das ♮ zur letz­ten Note steht nicht im Ori­gi­nal­druck, aber in einer alten Ab­schrift.“

Fakt ist, dass die­ser Auf­lö­ser tat­säch­lich in kei­ner Auf­la­ge des „Ori­gi­nal­drucks“ von 1731 steht, auch nicht in den spä­te­ren Auf­la­gen die­ses wun­der­schö­nen, aber durch­aus feh­ler­haf­ten Drucks.

Fakt ist au­ßer­dem, dass das ♮ in einer Ab­schrift aus dem 18. Jahr­hun­dert auf­taucht. Die Quel­le hat je­doch lei­der kei­ner­lei Au­to­ri­tät, im Ge­gen­teil: Die Neue Bach-Aus­ga­be be­zeich­net diese in der Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin unter der Si­gna­tur „P 215“ be­kann­te Ab­schrift als „kor­rum­piert“, das heißt, hier kom­men Noten und Zei­chen ins Spiel, die mit Bach nichts zu tun haben.

Zwei­te Über­ra­schung: Die al­ler­meis­ten Aus­ga­ben des 19. und 20. Jahr­hun­derts haben, ent­ge­gen der Quel­le, die­ses omi­nö­se ♮:

–         die kri­ti­sche Aus­ga­be der Bach-Ge­sell­schaft (1853) hat ♮H ,

–         die Pe­ters-Aus­ga­be von Czer­ny, Grie­pen­kerl und Roitzsch (um 1870) hat ♮H ,

–         die Aus­ga­be von Bu­so­ni bei Breit­kopf & Här­tel (1918) ent­hält das ♮, aber in­ter­es­san­ter­wei­se mit dar­un­ter ge­setz­tem, fra­gen­den „(♭)?“

–         die Neue Bach-Aus­ga­be (1976) und ihr fol­gend die Bä­ren­rei­ter-Aus­ga­be (2007) hat ♮H (das ♮ in Klein­stich, was be­deu­tet, der Her­aus­ge­ber hält B für falsch),

–         die Wie­ner Ur­text Edi­ti­on (1993) hat ♮H (kom­men­tar­los),

–         und seit 1997 nun auch die Henle Ur­text­aus­ga­be.

Ohne Vor­zei­chen an die­ser Stel­le, also B, sind mei­nes Kennt­nis­stan­des nach:

–         die Pe­ters-Aus­ga­be von Sold­an (1937) – das ist die erste „Ur­text­aus­ga­be“ der Werke über­haupt,

–         die frü­he­ren Auf­la­gen der Hen­le-Aus­ga­be (1952/1970, alle Auf­la­gen vor 1997)

–         sowie die Aus­ga­be des As­so­cia­ted Board of the Royal Schools of Music (1981), hier sogar mit dem Hin­weis: „The ♮ to the last note, found in some mo­dern edi­ti­ons, is not in CE [= Ori­gi­nal­aus­ga­be 1731] and seems un­ne­cessa­ry“.

Ja, was nun? Also ans Kla­vier und die Stel­le in bei­den Va­ri­an­ten aus­pro­biert: Das ♮H klingt ab­so­lut über­zeu­gend. Einer der ty­pisch Ba­chi­schen so­ge­nann­ten ab­sprin­gen­den Leit­tö­ne, au­ßer­dem un­ter­stützt es die an­klin­gen­de cha­rak­te­ris­ti­sche Zwi­schen­do­mi­nan­te zum fol­gen­den C-dur. Man spielt ge­ra­de­zu in­tui­tiv ♮H. Oder? Ohne Vor­zei­chen ge­spielt, also B, wirkt die Stel­le zu­nächst un­ge­wohnt, aber si­cher nicht falsch. Häu­fi­ger ge­spielt ent­wi­ckelt sie ihren ei­ge­nen Reiz, denn man ver­steht – vor­aus­ge­setzt, Bach mein­te wirk­lich B und nicht ♮H –, dass man be­reits im Sept­klang über C an­ge­kom­men ist, den die Fol­ge­tak­te ja groß­ar­tig aus­rei­zen (erst in Takt 18 sind wir wie­der in F-dur).

Drit­te Über­ra­schung: In der Pra­xis, also bei vol­lem „Cor­ren­te“-Tem­po (nicht „Cou­ran­te“ wie in vie­len alten Aus­ga­ben!) ist die Stel­le na­he­zu un­hör­bar. Sie geht ein­fach zu schnell vor­über. Das frag­li­che 16tel dau­ert einen Wim­pern­schlag und steht noch dazu auf der un­be­ton­tes­ten Zeit im Takt! Ich habe ge­rech­net: Ein Takt dau­ert, im rich­ti­gen Tempo ge­spielt, etwa 1 Se­kun­de, der Vier­tel­schlag be­trägt also etwa eine Drit­tel­se­kun­de, wie­der­um ein Drit­tel davon dau­ert in etwa un­se­re 16tel – die Note er­klingt also ge­ra­de­mal eine Zehn­tel­se­kun­de!

Den­noch, wer genau hin­hört, er­kennt, dass die meis­ten Pia­nis­ten/Cem­ba­lis­ten♮H spie­len, je­den­falls auf den mir zu­fäl­lig zu­gäng­li­chen Auf­nah­men (es sind 5). So auch András Schiff in sei­ner – mei­ner Mei­nung nach – Re­fe­renz-Live-Auf­nah­me bei ECM. Wenn ich nicht falsch höre, spie­len je­doch Clau­dio Arrau und Tre­vor Pin­nock ein B.

Liebe Leser, Sie wer­den sich nun viel­leicht fra­gen: Wenn man den Ton doch so­wie­so nicht hört, weil er so schnell vor­über­geht, und wenn es nur um einen Halb­ton­un­ter­schied geht, der in bei­den Fäl­len mu­si­ka­lisch kor­rekt ist, warum macht der Henle Ver­lag dann darum so einen Auf­wand? Die Ant­wort hier­auf muss frei­lich lau­ten: Für uns Phi­lo­lo­gen (und ich bin mir ganz si­cher: auch für alle ernst­haf­ten Mu­si­ker) kommt es nicht dar­auf an, ob es sich um einen „wich­ti­gen“, also pro­mi­nen­ten Ton han­delt oder um einen ganz „un­wich­ti­gen“ Ne­ben­ton, der in einer Zehn­tel­se­kun­de vor­über­fliegt – wir wol­len ein­fach wis­sen, wel­ches ist der „rich­ti­ge“ Ton.

Im Falle der Zehn­tel­se­kun­de ♮H oder B bin ich nun al­ler­dings ver­un­si­chert. Was meint der ge­schätz­te Leser?

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2 Antworten auf »Kommentar zu einer Zehntelsekunde Bach – H oder B in der B-dur-„Corrente“ BWV 825«

  1. Hans-Jörg Rechtsteiner sagt:

    Nun, da bin ich aber froh, daß meine Henle-Ausgabe der Partiten schon ein paar Jahrzehnte alt ist und ich die fragliche Stelle somit stets mit B anstatt H gespielt habe. In meinen Augen (und Ohren!) ist B die bessere Lesart, weil B – wie schon von Herrn Seiffert gesagt – bereits den Dominantseptakkord auf C im darauffolgenden Takt 13 anklingen läßt und klugerweise darauf verzichtet, das bereits im vorangehenden Viertel erklungene C-dur noch einmal durch eine Zwischendominante zu verstärken. Noch eindeutiger wird die Sache, nimmt man die Parallelstelle T. 49-50 in Augenschein, die gegenüber der soeben betrachteten Vorgängerstelle in der Oberquart steht, so daß in T. 50 anstatt C-dur F-dur erreicht wird, das sich als Dominantklang über den gesamten Takt erstreckt. Zwar unterscheidet sich die Melodik der Takte 12 und 49, doch sind die harmonischen Verhältnisse ab dem 2. Viertel gleich. Die harmonische Fortschreitung von Viertel zu Viertel lautet ab dem 2. Viertel von T. 12/49: V-IV-V-V-V7. Die I. Stufe wird erst in T. 14 bzw. 51 erreicht, in T. 14 ist das F-dur, in T. 51 B-dur. Die harmoniebildenden Töne des letzten Viertels von T. 12 lauten demzufolge: D-b-d’-f’, es ist der Sextakkord von B-dur, funktionsharmonisch die Subdominante zur Tonika F-dur, derjenigen Tonart, in welcher der erste Teil der Corrente schließt. Im analogen T. 49 lauten die harmoniebildenden Töne des letzten Viertels: c-es-g-b und sind funktionsharmonisch als Umkehrung des Subdominantquintsextakkords es-g-b-c zu interpretieren, dem in T. 50 die Dominante auf F und in T. 51 schließlich die Tonika B-dur folgen.

    An erster Stelle der Betrachtung müßte freilich der philologische Sachverhalt, also die Quellenkritik, stehen: Erstrangige Quelle ist eindeutig der Originaldruck, von dem nur aus triftigem Grund abgewichen werden darf. Im vorliegenden Fall fehlt dieser triftige Grund, wie soeben gezeigt, vollkommen. Die Änderung des B in H in Takt 12 ist also ein editorisches Ärgernis und durch nichts anderes zu rechtfertigen als durch den massenhaften Irrtum, begangen durch frühere Herausgeber und prominente Pianisten/Cembalisten.

    Ich benutze die Gelegenheit, auf eine weitere fragliche Stelle in Takt 34 derselben Corrente hinzuweisen: Der Originaldruck liest die 8. Note im Diskant als f”, die alte BG-Ausgabe hat f“ in g” geändert. Was ist richtig?

    • Besten Dank für Ihre klare Stellungnahme zum Problem h oder b. Offen gestanden, neige ich inzwischen auch stärker zum b, nicht zuletzt, weil man nicht „ohne Not“ die Primärquelle abändern sollte. Meine Hand (geleitet vom Ohr) greift aber immer noch „automatisch“ zum h
      Zur von Ihnen aufgeworfenen Problemstelle in T. 34 derselben Corrente (g oder f) gibt es in der Henle-Ausgabe einen Kommentar im Kritischen Bericht (S. 111), der vielleicht Ihre Frage beantwortet? „8. Sechzehntel in allen Quellen f2 statt g2; vgl. jedoch T 6, 8 und 36.“

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