Schu­bert hat die Ver­öf­fent­li­chung sei­ner im Mai 1828 kom­po­nier­ten drei Im­promp­tus nicht mehr er­lebt. Erst 40 Jahre spä­ter (!) wur­den sie ge­druckt, und kein Ge­rin­ge­rer als Jo­han­nes Brahms war der Her­aus­ge­ber die­ser bis heute von Pia­nis­ten und Pu­bli­kum ge­lieb­ten Kla­vier­stü­cke.

Im ers­ten Stück, in es-moll, gibt es ein Pro­blem. Und jeder, der das Stück ein­übt und vor­führt, soll­te mei­nes Er­ach­tens hier eine per­sön­li­che Ent­schei­dung auf der Ba­sis der Fak­ten tref­fen. Es geht um den „C-Teil“ des ron­do­ar­tig an­ge­leg­ten Stü­ckes A – B – A – C – A. Nur we­ni­ge wis­sen oder neh­men ernst, dass Schu­bert in sei­ner Nie­der­schrift des Stü­ckes die­sen „C-Teil“ un­miss­ver­ständ­lich aus­strich, also un­gül­tig mach­te:

D 946 Autograph
Abb. 1: D 946, Au­to­graph, S. 4. Wien, Wien­bi­blio­thek im Rat­haus, Mu­sik­samm­lung, Si­gna­tur MH 143 (Home­page be­su­chen)

Über die Grün­de die­ser au­to­gra­phen Strei­chung kann man durch­aus spe­ku­lie­ren: Waren es for­ma­le Grün­de? Wohl kaum, denn ge­ra­de eine sol­che Ron­do-An­la­ge kennt man aus vie­len an­de­ren Schu­bert-Stü­cken. War Schu­bert das Stück viel­leicht zu lang, wes­halb er es um im­mer­hin 165 Takte (die Wie­der­ho­lun­gen nicht ge­rech­net) strich? Das könn­te ein Grund ge­we­sen sein, sind doch die bei­den an­de­ren Kla­vier­stü­cke D 946 nur etwa halb so lang. Oder hielt er es wo­mög­lich aus mu­si­ka­li­schen Grün­den für zu schwach kom­po­niert? Hier würde ich per­sön­lich leise ni­cken: Der C-Teil in As-dur scheint mir zu harm­los und er setzt dem er­reg­ten es-moll nichts Eben­bür­ti­ges ent­ge­gen (was der B-Teil ja durch­aus ly­risch tut).

Das Pro­blem be­steht aber darin, dass Jo­han­nes Brahms, der Her­aus­ge­ber der Erst­aus­ga­be, Schu­berts Strei­chung wie­der öff­ne­te und die Noten voll­stän­dig ab­dru­cken ließ. Aus­ge­rech­net er, der Skru­pu­lö­se, der um das Rin­gen eines Kom­po­nis­ten um die op­ti­ma­le Lö­sung wuss­te, igno­rier­te Schu­berts aus­drück­li­chen Wunsch! Warum nur? Auch dar­über könn­te spe­ku­liert wer­den… Im­mer­hin mach­te Brahms die ori­gi­na­le Strei­chung kennt­lich, indem er eine Fuß­no­te er­gänz­te: „NB. Der Theil von A bis B wurde im Ori­gi­nal-Ma­nu­scrip­te von Schu­bert wie­der ge­stri­chen.“

D 946 Erstausgabe
Abb. 2: D 946, pos­tu­me Erst­aus­ga­be, J. Rie­ter-Bie­der­mann, Leip­zig/Win­ter­thur 1868

Das hat alle nach­fol­gen­den Druck­aus­ga­ben bis heute nicht daran ge­hin­dert, Schu­berts es-moll-Im­promp­tu immer und immer wie­der in der lan­gen, fal­schen Fas­sung ab­zu­dru­cken. „Falsch“? Na­tür­lich „falsch“!, weil Schu­bert es so nach­weis­lich nicht woll­te. Und den­noch muss man die­sem „falsch“ ein an­de­res Phä­no­men ent­ge­gen hal­ten, näm­lich die durch­aus schwer wie­gen­de Tra­di­ti­on: Seit na­he­zu 150 Jah­ren wird das Stück in der lan­gen Brahms-Fas­sung ge­spielt. Viele wür­den etwas Lieb­ge­won­ne­nes ver­mis­sen, ja, dem/der Auf­füh­ren­den sogar einen Feh­ler un­ter­stel­len, würde er/sie den „C-Teil“ weg­las­sen. Man kann die­ses Phä­no­men viel­leicht mit einem Ka­pi­tel in einem Buch oder einer Szene eines Thea­ter­stücks ver­glei­chen: das Ka­pi­tel ist sei­nen Le­sern, die Szene den Thea­ter­be­su­chern bes­tens be­kannt – nun soll die­ser Teil plötz­lich weg­fal­len, „bloß“ weil es der Ur­he­ber an­geb­lich so woll­te?

Aus­ge­wähl­te, sehr un­ter­schied­li­che Auf­nah­men mit „C-Teil“:

Svia­tos­lav Rich­ter

Ru­dolf Fir­kus­ny

http://​www.​youtube.​com/​watch?​v=qqv​6LN9​ErhE

Pie­ter van Win­kel

http://​www.​youtube.​com/​watch?​v=hvH_​hiPSNg0

Cy­prien Kats­a­ris (1)

Cy­prien Kats­a­ris (2)

Al­ler­dings ver­zich­ten heute immer mehr Pia­nis­ten auf den „C-Teil“, unter an­de­ren:

Imo­gen Co­oper

An­dre­as Stai­er

Paul Lewis

Mau­ri­zio Pol­li­ni

http://​www.​youtube.​com/​watch?​v=jK3​TMSm​jRfg

In un­se­rer ge­ra­de ver­öf­fent­lich­ten Neu­auf­la­ge der Schu­bert-Stü­cke (HN 66) wol­len wir noch deut­li­cher als bis­her auf das in die­sem Blog an­ge­spro­che­ne Thema auf­merk­sam ma­chen: Die von Schu­bert ge­stri­che­nen Takte fin­det man dort ab so­fort nur noch im Klein­stich mit ent­spre­chen­den Hin­wei­sen ab­ge­druckt.
D 946 - HN 66
Abb. 3: HN 66, Re­vi­si­on S. 9

Wir konn­ten uns nicht ent­schlie­ßen, die von Schu­bert un­ge­wünsch­ten Takte ganz weg­zu­las­sen (was aber, zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen, als Ver­tre­ter des Ur­he­ber­wun­sches von 1828 for­mal „kor­rekt“ ge­we­sen wäre). Die enor­me Tra­di­ti­on der „lan­gen“ Fas­sung schien uns dafür zu schwer zu wie­gen. Dank des Klein­stichs und Kom­men­tars haben Sie je­doch, liebe Kla­vier­spie­ler die Mög­lich­keit, nein die Pflicht, sich ei­ge­ne Ge­dan­ken zu ma­chen. Neu­gie­rig wären wir, wie Sie per­sön­lich dazu ste­hen: Tei­len Sie’s uns mit.

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6 Antworten auf »Schubert streicht, Brahms öffnet. Zum ersten der drei nachgelassenen Klavierstücke (Impromptus) D 946 von Franz Schubert«

  1. Katrin Eich sagt:

    War es Brahms?
    Können wir sicher sein, dass Brahms der anonyme ‚Herausgeber‘ der drei Stücke war? Das wurde zwar lange angenommen. Liest man aber den Briefwechsel zwischen Brahms und seinem Verleger Jakob Melchior Rieter-Biedermann, wird man skeptisch. Brahms‘ Brief von August 1867 zufolge hatte Schuberts Neffe Eduard Schneider die Stücke zu dieser Zeit an den Verleger geschickt, und Brahms äußerte dazu: „Doch muß jedenfalls Ordnung und alles Mögliche recht sorglich bedacht werden. Ich habe aus Rücksicht nicht redigiert, weiß aber auch nicht, was und wie er es gemacht.“ Gegen Ende des Jahres 1867 erhielt Brahms wohl gleich einen Vor- oder Korrekturabzug der Stücke und meinte: „ein zweiter Redakteur“ wäre „nicht unnütz gewesen“. Er bedauerte, dass das Adagio D 612 fehle, das er selbst „oft öffentlich gespielt“ habe – und das später bei Rieter separat erschien. Darüber hinaus betonte er: “Was sonst noch geschehen sein mag, weiß ich nicht. Wie gesagt, ich hätte am liebsten die Stücke früher gesehen; übersehe sie jetzt auch ganz gern. Und möglicherweise zögern Sie ein wenig mit der Herausgabe, und läßt sich das genannte Versehen“, also offenbar der Verzicht auf das Adagio, „oder andre mögliche noch gut machen??!!?”
    So wurde Brahms also erst recht spät in die Arbeiten an der Erstausgabe einbezogen. Wie in jüngerer Zeit bereits geschehen, wäre hinter seine Herausgeberschaft daher ein großes Fragezeichen zu setzen. Eher handelte es sich wohl um eine Art Gemeinschaftswerk: mit unterschiedlich gewichtigen Anteilen von Schneider, dem Verlag (also Rieter-Biedermann samt Mitarbeitern) und Brahms. Was dabei auf Brahms zurückgeht, wie viel Einfluss er noch nahm oder nehmen konnte und welche Meinung er zu dem gestrichenen Teil im ersten Stück vertrat, wird man, fürchte ich, wohl nicht eindeutig klären können.

    • seiffert sagt:

      Hallo Frau Eich, vielen herzlichen Dank für Ihre Fragezeichen hinter den Namen Brahms, der vielleicht tatsächlich wenig bis gar nichts mit dem Schubert-Erstdruck zu tun hat. Brahms tritt ja auch in keiner Weise namentlich nach außen hin auf, so dass seine (Nicht-) Herausgeberschaft letztlich eine Art interne Angelegenheit blieb und bleibt.
      Mir ging es im Beitrag vor allem um die außerordentlich nachhaltige, nicht ignorierbare Rezeptionsgeschichte dieser Erstausgabe, die bis heute stark nachwirkt. Ich erhielt auf meinen Beitrag hin inzwischen auch schon einige E-Mails von Pianisten, die von der Sachlage gar nichts (!) wussten und jetzt das Stück mal in der kürzeren (authentischen) Version spielen werden. Eine japanische Pianistin zeigte sich geradezu erleichtert, denn ihr habe der gestrichene Teil noch nie so recht gefallen …
      Nochmals tausend Dank für Ihren wichtigen, ergänzenden Beitrag dazu!

  2. Ein sehr interessanter Artikel. Ich lese von der Kürzung zum ersten Mal und ich weiß nicht, wie ich mich dazu stellen soll. Einerseits fühle ich mich beim C-Teil auch immer unbehaglich, andererseits hat er auch seine recht netten Seiten. Was mich stört, ist die Tonika, Subdominante, Tonika-Abfolge, die mich immer an den 2. Satz der Appassionata erinnert. Ich würde für die Kürzung plädieren, weil mir eine dritte Wiederholung des A-Teils etwas langweilig erscheint.
    Aber spielen würde ich trotzdem die Langfassung. Irgendwie scheue ich mich, etwas von Schubert weg zu lassen, selbst wenn er es selbst gestrichen hat.

  3. Thierry Morice sagt:

    Dieser Artikel ist leider etwas ungenau. Wie Katrin Eich sagte, ist die weit verbreitete Meinung, Brahms wäre der erste Herausgeber der “Drei Klavierstücke”, durch die vorhandenen Dokumente widerlegt. Andrea Lindmayr-Brandl hat dem Thema einen Artikel in “Die Musikforschung” (Nr von April-Juni 2000) gewidmet und kommt zu dem Schluß, Brahms’ Beitrag auf die Veröffentlichung dürfte sich auf die Anmerkung „NB. Der Theil von A bis B wurde im Original-Manuscripte von Schubert wieder gestrichen.“ beschränkt haben.
    Auch ist es schlicht falsch, daß alle nachfolgenden Ausgaben die lange Fassung gedruckt hätten. Die Gesamtausgabe (1884-1897) druckte das erste Klavierstück ohne die zweite Episode. Im Revisionsbericht steht “Nr1 hatte ursprünglich noch einen zweiten Mittelsatz. Er fing S. 7 (155) Zeile 2 vor dem letzten Takt an, und lautete : …”
    Zuständig für diesen Teil der Gesamtausgabe war Julius Epstein, aber der Spiritus Rector war … Johannes Brahms, so daß man nicht behaupten kann, Brahms hätte “geöffnet”, was Schubert gestrichen hat. Im Gegenteil hat wohl Brahms zur Streichung dessen beigetragen, was E. Schneider und Rieter-Biedermann geöffnet hatten.
    Es hat von der GA mehrere Nachdrucke gegeben, so daß viele Pianisten den kurzen Text kennen. Man kann nicht sagen, daß die lange Fassung sich in der Tradition durchgesetzt hätte. Im Juni 1969 spielte Kempff im Konzert, das von der BBC eingefangen wurde, die kurze Fassung. Brendel hat sie auch immer gespielt, sowie Badura-Skoda … Klar hatte der Henle Verlag in seiner ersten Urtext-Edition die lange Fassung, aber der Pianist und der Musikliebhaber hatte lange schon die Möglichkeit, die Kurzfassung zu kennen, zumal jetzt im Zeitalter des Internets die Version der Alten Gesamtausgabe online frei verfügbar ist.

  4. Ich würde die Streichung (C-Teil in As-Dur) – Brahms’s Notiz in alle Ehren – einer Tintenuntersuchung stellen…Die Streichung sieht schon vom Federstrich her stärker und dunkler als die übrigen Federstriche aus, zumindest auf diesem Photo des Manuskripts!… Man könnte allen Argumenten pro und contra folgen, – die Episode ist jedoch auskomponiert und m.E. sehr raffiniert. Formales Gleichgewicht stört mich nicht, denn Schubert muss seine Gründe gehabt haben, diese plötzliche unruhige Dur-Unentschlossenheit,- dieses sich winden, suchen, herantasten – auskomponieren… Subjektiv, sicher! Ich spiele es immer mit, denn es steigert die Dramatik des Werkes, durch diese “unerwartete” leicht erregte Durstimmung…!

  5. Herwig Swoboda sagt:

    Das Problem liegt m.E. in der Aufführungspraxis: Virtuosität, wörtlich Tugend, wurde um 1800, spätestens ab 1830 mechanisiert, auch mit dem unseligen Metronom, um durch Spannung und Tempo die Kompetenz des Aufführenden dem meritokratischen Publikum unmissverständlich demonstrieren zu können. Eigentlich müsste das bei den Drei Klavierstücken vom ersten Takt an aufstoßen. Der “C-Teil” verträgt das eben gar nicht. Wenn Schubert diesen Teil gestrichen hat, so wird er ihn vorher wohl komponiert haben. Wem steht es dann zu, ihn zu kritisieren ?

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