Der letz­te Blog­bei­trag vom 6. Ja­nu­ar hat es schon an­ge­deu­tet: wir be­grü­ßen Ser­gej Rach­ma­ni­now als neuen Autor im Hen­le-Ka­ta­log! Mit dem Ab­lauf der Re­gel­schutz­frist am 1.1.2014 sind seine Werke in Deutsch­land und vie­len an­de­ren Län­dern der EU und welt­weit nun in die Pu­blic Do­main ge­fal­len, so dass einer kri­ti­schen Neue­di­ti­on sei­ner Kom­po­si­tio­nen nichts mehr im Wege steht.

Die ers­ten Werke, die wir jetzt im Ja­nu­ar als brand­neue Ur­text-Aus­ga­ben prä­sen­tie­ren, sind neben den Co­rel­li-Va­ria­tio­nen (HN 1206) die Étu­des-Ta­bleaux (HN 1202), die 24 Préludes (HN 1200) sowie dar­aus das si­cher be­kann­tes­te Stück Rach­ma­ni­nows: das Prélude cis-moll Opus 3 Nr. 2 als Ein­zel­aus­ga­be (HN 1211).

Bei einem der­art viel­ge­spiel­ten „Schlacht­ross“ wie dem cis-moll-Prélude soll­te man mei­nen, dass keine Fra­gen mehr offen seien. Doch wahr­schein­lich führ­te ge­ra­de die enor­me Po­pu­la­ri­tät und die glo­ba­le Ver­brei­tung des Stücks bald nach sei­ner Ent­ste­hung 1892 dazu, dass ein ekla­tan­ter Feh­ler bis heute of­fen­bar nicht aus der Welt zu schaf­fen ist.

Es geht um den 2. Ach­telak­kord in der lin­ken Hand in Takt 5, der je nach Aus­ga­be mal mit dis, mal mit d no­tiert wird. Bei­des ist klang­lich mög­lich – aber was stimmt? Be­trach­tet man das Au­to­graph (der be­tref­fen­de Ak­kord ist hier mit dem roten Pfeil mar­kiert), sind gar keine Vor­zei­chen vor dem Ak­kord zu sehen, es han­delt sich wegen der Ge­ne­ral­vor­zeich­nung also um die Töne dis1 und dis2:

Au­to­graph (Fak­si­mi­le­aus­ga­be, Ver­lag Mu­zy­ka, Mos­kau 1977)

Er­staun­li­cher­wei­se setzt die rus­si­sche Erst­aus­ga­be des Mos­kau­er Ver­lags A. Gut­heil aber Auf­lö­se­zei­chen und än­dert zu d1 bzw. d2:

Erst­aus­ga­be (Gut­heil, Mos­kau 1893), frühe Auf­la­ge

Ob diese Ab­wei­chung auf eine be­wuss­te Än­de­rung Rach­ma­ni­nows in den (nicht er­hal­te­nen) Kor­rek­tur­fah­nen zu­rück­geht, oder aber ein ei­gen­mäch­ti­ger Ein­griff des Ste­chers war, dem viel­leicht die Se­kund-Rei­bung dis–e zu dis­so­nant er­schien, ist nicht mehr zu klä­ren.

In­ter­es­sant ist aber, dass in spä­te­ren Auf­la­gen genau diese Stel­le er­neut ge­än­dert wurde und nun aus­drück­lich Kreu­ze vor die be­tref­fen­den Noten ge­setzt wur­den, so­zu­sa­gen als Si­cher­heits­vor­zei­chen:

Erst­aus­ga­be (Gut­heil, Mos­kau 1893), spä­te­re Auf­la­ge

Man er­kennt die spä­te­re Än­de­rung auch daran, dass die Form die­ser Kreu­ze von den rest­li­chen Kreu­zen auf der Stich­plat­te leicht ab­weicht, da in­zwi­schen of­fen­bar an­de­re Stem­pel ver­wen­det wur­den; zudem sind die Hilfs­li­ni­en links leicht be­schä­digt.

Dass diese Kor­rek­tur Rach­ma­ni­nows Wil­len ent­sprach, be­stä­ti­gen auch alle spä­te­ren Aus­ga­ben des Prélude, die bei Gut­heil er­schie­nen; vor allem der Ge­samt­zy­klus der 24 Préludes, der mit dem cis-moll-Prélude er­öff­net wird und bei Breit­kopf in Leip­zig neu ge­sto­chen wurde – in­klu­si­ve dem kor­ri­gier­ten dis:

Spä­te­re Sam­mel­aus­ga­be der 24 Préludes (Gut­heil/Breit­kopf & Här­tel, Mos­kau/Leip­zig 1911)

(Und falls Sie mit dem d so­zu­sa­gen auf­ge­wach­sen sind und immer noch zwei­feln soll­ten – auf YouTube kön­nen Sie sich drei ei­ge­ne Ein­spie­lun­gen des Meis­ters an­hö­ren – na­tür­lich alle mit dem dis…)

Also alles kein Pro­blem, soll­te man mei­nen – die ver­al­te­ten Ex­em­pla­re waren ja bald vom Markt und Gut­heils Neu­aus­ga­ben durch­weg ver­bes­sert, so dass sich das kor­rek­te dis hätte durch­set­zen kön­nen. Fa­ta­ler­wei­se un­ter­lag je­doch Gut­heils Aus­ga­be von 1893 noch nicht dem in­ter­na­tio­na­len Co­py­right-Schutz, so dass au­ßer­halb Russ­lands das cis-moll-Prélude welt­weit nach Her­zens­lust nach­ge­druckt (und be­ar­bei­tet) wer­den durf­te. Und in den meis­ten die­ser Aus­ga­ben wird das ob­so­le­te d der Erst­aus­ga­be über­nom­men – ein Bei­spiel unter vie­len ist diese frühe eng­li­sche Kon­kur­renz­aus­ga­be von 1896 „edi­ted by John A. Pres­ton“:

Aus­ga­be Bos­worth & Co., Lon­don/Leip­zig 1896

Da viele die­ser Aus­ga­ben nach wie vor un­ver­än­dert nach­ge­druckt wer­den (oder als Vor­la­ge für neue Aus­ga­ben und Be­ar­bei­tun­gen dien­ten), hält sich der fal­sche Ton lei­der bis heute hart­nä­ckig im Kon­zert­saal und auf Auf­nah­men. Ein wei­te­rer guter Grund also, stets auf ver­läss­li­che Ur­text-Aus­ga­ben zu­rück­zu­grei­fen…

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Eine Antwort auf »Ein falsches D geht um die Welt – Rachmaninows cis-moll-Prélude unter der Lupe«

  1. A.Pistorius sagt:

    Dieser Druckfehler ist uralt und bekannt…, welcher “hörende” Musiker wird denn “d” spielen? Es gibt aber haufenweise andere Fehler, die ungerührt gespielt werden, um mal einen zu nennen: in Liszts Dante-Sonate Takt 102, 7.Akkord re.Hand mit “eis”, nicht “e”, oder Takt 297, 2.Akk. re.Hand mit “gis”, nicht g! Liszt selbst hat beim Korrekturlesen manches übersehen, so ist auch das gis in früheren Varianten vorhanden.

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