Mit Béla Bartók reiht sich 2016 ein neuer Komponist in unseren Katalog ein – immer ein besonderes Ereignis für einen Urtext-Verlag, und in diesem Fall gleich ein doppeltes Vergnügen: Denn zum einen starten wir in diesem Jahr eine große, auf 48 Bände angelegte Kritische Gesamtausgabe sämtlicher Werke des Komponisten, zum anderen erscheinen (zunächst) seine Klavierwerke für die musikalische Praxis in blauen Urtext-Ausgaben.
Um dem größten aller ungarischen Komponisten auch die gebührende Sorgfalt angedeihen zu lassen, gehen wir dieses Projekt in einer besonderen Partnerschaft an: zusammen mit dem ungarischen Verlag Editio Musica Budapest und dem Bartók-Archiv in Budapest. Der langjährige Leiter des Archivs und Initiator der Gesamtausgabe, László Somfai, hat nun vorab zur Gesamtausgabe eine Urtext-Ausgabe des Allegro barbaro (HN 1400) veröffentlicht, die uns gewissermaßen einen Blick durchs Schlüsselloch auf die Gesamtausgabe gewährt. Grund genug für ein kleines Interview mit dem Bartók-Forscher:
Professor Somfai, ein ganzes Forscher-Leben lang beschäftigen Sie sich nun mit Bartók, seinen Werken und ihrer Entstehung und Überlieferung. Dieses Wissen ist in zahlreiche Einzelstudien, dicke Bücher, Vorträge und ein in Vorbereitung befindliches Werkverzeichnis eingeflossen – nun endlich erscheinen auch von Ihnen herausgegebene Ausgaben der Werke Bartóks. Warum ist Ihnen (auch) das ein besonderes Anliegen?
Schon als ich 1972 Leiter des Budapester Bartók-Archivs wurde, war mir bewusst, dass eine Kritische Ausgabe von Bartóks Werken dringend gebraucht wurde. Die Nachkriegsliteratur zu Bartók erschien unregelmäßig und war unausgewogen: viele Bücher und Studien zu Biographie und Stilanalyse, aber kaum etwas über Bartóks Kompositionsweise oder zur Aufführungspraxis seiner Werke. Diese Schieflage rührte vor allem daher, dass die beiden größten Sammlungen seiner Manuskripte – das New Yorker Bartók-Archiv und unseres hier in Ungarn – nicht allen interessierten Musikern und Musikwissenschaftlern offen standen. Und wer an einem anspruchsvollen Projekt wie einer Dissertation arbeitete, konnte sich immer nur an eine Seite wenden; auch hier herrschte gewissermaßen der „Kalte Krieg“.
Aber das war nicht das einzige Problem, oder?
Hinzu kam der besorgniserregende Umstand, dass im Handel verschiedene Drucke seiner Werke kursierten: überholte und revidierte Fassungen, Vorkriegsdrucke der Universal Edition und teils abweichende Ausgaben von Boosey & Hawkes; außerdem Veröffentlichungen von Editio Musica Budapest, ganz zu schweigen von den billigen sowjetischen Raubdrucken. Schon vor über 40 Jahren fing ich daher an, mich für eine Kritische Bartók-Ausgabe einzusetzen. Ich nutzte meine akademischen Beziehungen zum Kölner Joseph-Haydn-Institut und zum Salzburger Mozarteum, besuchte in den 1970-er Jahren Schönberg- und Webern-Kongresse in Wien und organisierte in Ungarn eine Konferenz für die Herausgeber der Gesamtausgaben von Schönberg, Berg, Janáček und anderen. So studierte ich die neuen, nach dem Krieg begonnenen, Gesamtausgaben und entwarf für die Bartók-Ausgabe ein etwas anderes Profil. Von Anfang an stand fest, dass hier in manchen Fällen nicht nur eine einzige Textfassung kanonisiert konnte. Auch herrschte Konsens darüber, dass Bartóks eigene Einspielungen als wesentliche Quellen herangezogen werden mussten. Ein bahnbrechender Schritt erfolgte bereits 1981, als wir mit Hungaroton eine Gesamtausgabe von Bartóks Klavieraufnahmen auf 26 LPs veröffentlichten. Sie wurde zu einer unentbehrlichen Quelle für Pianisten und Bartók-Forscher gleichermaßen. Aber ohne eine Kritische Ausgabe musste sie, besonders auf die Ausführenden, bis zu einem gewissen Grad verstörend wirken, denn die gängigen Editionen und die vom Komponisten gespielten Lesarten unterschieden sich in vielen Fällen erheblich!
Und selbst dieser gedruckte Text differierte ja noch in den bereits erwähnten unterschiedlichen Ausgaben, die Bartók mitunter selbst von einem Werk erschienen ließ! Für die Aufarbeitung dieser mitunter sehr unübersichtlichen Quellensituation bietet das 1961 gegründete Bartók-Archiv heute international einmalige Voraussetzungen: Neben zahlreichen Originalpartituren und Dokumenten aus Bartóks Besitz und verschiedenen Nachlässen beherbergt es auch Kopien der in anderen Sammlungen aufbewahrten Quellen, so dass man hier nach Ihrer Schätzung ca. 95% der Quellen zu Bartóks Werk und Wirken einsehen kann. Worin sehen Sie die besondere Aufgabe der Bartók-Gesamtausgabe?
Für die Forschung muss die Ausgabe nicht nur die authentischste Fassung der vollendeten und veröffentlichten Werke und der meistenteils unveröffentlichten Jugendwerke bereitstellen, sondern auch wichtige Varianten sowie die Skizzen und Fragmente. Für die Musikpraxis ist es wichtig, dass die Ausgabe den Notentext nicht auf eine als authentisch geltende Form reduziert, sondern authentische Alternativfassungen bietet; aufführungsrelevante Fragen werden im Notenteil behandelt und nicht auf einen separaten Kritischen Bericht beschränkt.
Bartók hat seine Werke mitunter in revidierten Ausgaben veröffentlicht. War er ein guter Herausgeber seiner eigenen Werke?
Ja, bei der Vorbereitung der Druckvorlagen war er sehr sorgfältig, und er hatte ein scharfes Auge für Druckfehler. Allerdings fiel ihm zwar jeder falsche Rhythmus auf, aber ob ein Vorzeichen fehlte, merkte er oft nicht, und Metronomangaben wurden immer wieder mit falschen Notenwerten gedruckt (z. B. mit Viertel- statt Halbenote, wie im Falle des Allegro barbaro).
Und warum drucken wir z. B. beim Allegro barbaro nicht einfach Bartóks revidierte Ausgabe nach?
Der Hauptgrund ist, dass hier der gedruckte und der von Bartók musizierte Text mehrfach voneinander abweichen – und das nicht nur in einer Aufnahme, sondern in zwei, die zu verschiedenen Zeiten unter verschiedenen Umständen entstanden. Es geht dabei nicht einfach um die Tempofrage (Bartók spielt schneller, als die revidierte Fassung angibt) oder darum, an welche Stellen die Hauptakzente gehören, sondern auch um divergierende Längen einiger Ostinato-Abschnitte. Bartóks Aufführung repräsentiert hier gewissermaßen eine „korrigierte“ Fassung.
Damit kommen wir nochmal auf die Tonquellen zurück. Sie sind in der Musik des 20. Jahrhunderts ja generell ein wichtiger Teil der Überlieferung und tauchen auch in unseren Henle-Urtext-Ausgaben eines Skrjabin oder Gershwin als Quellen auf. Während hier allerdings in der Regel nur zusätzliche Informationen über persönliche bzw. temporäre Aufführungsvarianten (hinsichtlich Tempo, Agogik oder Füllstimmen) gewonnen werden, kommt den Tonaufnahmen bei Bartók mitunter textkonstituierende Bedeutung zu. So auch beim Allegro barbaro, zu dem eine Aufnahme Bartóks vorliegt, auf die er im anstehenden Nachdruck seiner Ausgabe eigens hinweisen wollte. Wieso machte Bartók solche „Referenzaufnahmen“? Misstraute er dem gedruckten Text?
Bartók hatte im Prinzip gar nicht vor, Referenzaufnahmen, also modellhafte eigene Einspielungen, vorzulegen – im Gegenteil: Er gab der tatsächlichen Aufführung immer den Vorzug vor „mechanisch aufgezeichneter“ Musik und verkündete die „prinzipielle Flexibilität künstlerischer Interpretation“ (wie er es in einem Aufsatz über „Mechanische Musik“ ausdrückte). Allerdings dürfte er immer wieder Aufführungen seiner Klavierwerke in falschen Textvarianten gehört haben, was ihn sicherlich verbittert und frustriert hat. Deswegen wies er die Universal Edition in den 1930-er Jahren in zwei Fällen – bei der ansonsten unveränderten Wiederauflage der Suite op. 14 und beim Allegro barbaro – an, in einer Fußnote auf der ersten Seite auf seine eigene Einspielung hinzuweisen: „Authentische Grammophon-Aufnahme (Vortrag des Komponisten)“ mit allen Angaben zur entsprechenden His Master’s Voice-Schallplatte.
Anstelle eines solchen Hinweises wird die Aufnahme nun in Ihrer Urtext-Ausgabe des Allegro barbaro eben mit zur Edition herangezogen. Die Varianten werden im Notentext grau abgestuft wiedergegeben und in den „Aufführungspraktischen Hinweisen“ erläutert.
Sie betreffen nicht nur Tempo, Artikulation und Pedalgebrauch, sondern wie bereits erwähnt auch die Länge der für das Stück so charakteristischen Ostinatopassagen – und in einem Fall deckt die Aufnahme sogar einen möglichen Fehler im Notentext auf: Im Diminuendo in T 88–100 spielt Bartók in Übereinstimmung mit dem Autograph nur 12 statt der gedruckten 13 Takte, wodurch diese Überleitungspassage die auch sonst an analogen Stellen auftretende gerade Anzahl von Takten hat.
Da Bartók die Stelle nicht nur in der (mehrfach geprüften) „authentischen Aufnahme“, sondern auch in einer anderen Aufnahme hier mit 12 statt 13 Takten spielt, ist ein Versehen auszuschließen. Umgekehrt ist es durchaus denkbar, dass beim Kopieren des Autographs an dieser Stelle ein Takt versehentlich doppelt abgeschrieben wurde und sich dieses Versehen bis in die letzte Druckausgabe durchgezogen hat, so dass die Tonaufnahme hier die von Bartók revidierte Ausgabe gewissermaßen „korrigiert“.
Was sollten Musiker beim Umgang mit Tonquellen-Varianten in der praktischen Ausgabe berücksichtigen?
Ganz spontan: Ich bin dem Verlag sehr dankbar für die Idee, die Ausgabe des Allegro barbaro zusätzlich mit Varianten in Graudruck zu versehen – die perfekte Lösung für eine empfohlene, aber nicht verpflichtende authentische Anweisung. Ich hoffe, dass die Musiker, die das Stück aus dem neuen Henle-Urtext spielen, sich auch genau Bartóks Aufnahmen anhören. Nach meiner Erfahrung haben selbst Bartók-Experten unter den Pianisten, die ansonsten viele wichtige Merkmale aus der Einspielung des Komponisten übernehmen, bisher davon abgesehen, die abweichenden Ostinato-Wiederholungen zu spielen, obwohl sie sie aus der Aufnahme kennen. Die Urtext-Ausgabe stellt durch den Graudruck im Notentext und die Erläuterungen dazu klar, dass diese „korrigierte“ Länge einer Revision durch den Komponisten entspringt.
Zu guter Letzt die Frage: Wie fühlt es sich an, wenn Ihre erste Bartók-Urtext-Ausgabe – gewissermaßen als Vorbote der Gesamtausgabe nun vor Ihnen liegt?
Nachdem ich um die Verwirklichung meines Traums über vierzig Jahre wie Don Quixotte gegen die Windmühlen gekämpft habe, ist dies ein besonderes Geschenk für mich.
Ich war früher ein leidenschaftlicher Verfechter Ernö Lendvays Bartók-Analysen. Deshalb erklärte ich fleißig meinen Schülern warum in den Takten 88-100 13 Takten lang das Ostinato dauert (Fibonacci Reihe 1-2-3-5-8-13 )
Ich bin froh über die neue Edition!