Das Kla­vier­quin­tett ist ge­wis­ser­ma­ßen die „Su­per­schwer­ge­wichts­klas­se“ unter den kam­mer­mu­si­ka­li­schen Be­set­zun­gen: die mäch­ti­ge Klang­fül­le des Kla­viers trifft auf den eben­bür­ti­gen Part­ner eines Streich­quar­tetts, das für sich al­lein ge­nom­men schon ein ei­gen­stän­di­ges En­sem­ble bil­det. Diese Kom­bi­na­ti­on bie­tet eine große Pa­let­te von Klang­far­ben und er­laubt eine enor­me dy­na­mi­sche Band­brei­te, von in­ti­men Du­et­ten bis hin zu Stei­ge­run­gen von fast sym­pho­ni­schen Aus­ma­ßen.

Kein Wun­der, dass sich ins­be­son­de­re die Kom­po­nis­ten der ro­man­ti­schen Epo­che von die­ser aus­drucks­star­ken Be­set­zung an­ge­spro­chen fühl­ten – und ge­ra­de zwi­schen 1842 und 1887 ent­stan­den die wohl vier be­deu­tends­ten Werke für Kla­vier­quin­tett: von Ro­bert Schu­mann (Es-dur op. 44), Jo­han­nes Brahms (f-moll op. 34), César Franck (f-moll), und schließ­lich Antonín Dvořák (A-dur op. 81). Als ent­fern­ter Ver­wand­ter sei auch Schu­berts Fo­rel­len­quin­tett er­wähnt, das aber mit sei­nem leich­te­ren Ton­fall, der Fünf­sät­zig­keit und der ab­wei­chen­den Be­set­zung mit Kon­tra­bass statt 2. Geige noch eher in der Tra­di­ti­on der Wie­ner Se­re­na­den­mu­sik zu sehen ist.

Ins­be­son­de­re Dvořáks Bei­trag zur Gat­tung wird von Zu­hö­rern wie Mu­si­kern glei­cher­ma­ßen ge­liebt, ver­eint es doch me­lo­di­schen Reich­tum und un­mit­tel­bar an­spre­chen­de Ideen mit mu­si­ka­li­scher Tiefe und meis­ter­li­cher for­ma­ler Ge­stal­tung. Seit der ver­dienst­vol­len Edi­ti­on von Antonín Čubr 1955 im Rah­men der Dvořák-Ge­samt­aus­ga­be war al­ler­dings bis heute keine kri­ti­sche Aus­ga­be des Quin­tetts op. 81 er­schie­nen. Nach 66 Jah­ren war es für uns also höchs­te Zeit für einen fri­schen Blick auf die Quel­len, zumal erst vor ei­ni­gen Jah­ren sen­sa­tio­nel­ler­wei­se eine un­be­kann­te Quel­le in Ita­li­en auf­tauch­te: eine voll­stän­di­ge au­to­gra­phe Ver­laufs­skiz­ze in Par­ti­cell­form, laut den ei­gen­hän­di­gen Da­tie­run­gen be­gon­nen am 16. Au­gust und be­en­det am 3. Ok­to­ber 1887 in Dvořáks länd­li­chem Som­mer­sitz Vysoká „zu einem hüb­schen Stünd­chen“.

Die­ses Ma­nu­skript be­fin­det sich heute im Pri­vat­be­sitz von Mat­t­hew Ma­le­rich, Bak­ers­field, Ka­li­for­ni­en, der uns freund­li­cher­wei­se für un­se­re Edi­ti­on Ein­sicht in die Quel­le ge­währ­te. Wir sind dem Be­sit­zer sehr dank­bar, dass er uns für die­sen Blog­bei­trag sogar ge­stat­te­te, zwei Sei­ten die­ser Quel­le ab­zu­bil­den:

 
Au­to­gra­phes Par­ti­cell, erste und letz­te Seite. Pri­vat­be­sitz Mat­t­hew Ma­le­rich. Ab­bil­dung mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung. (Zum Ver­grö­ßern Bil­der an­kli­cken.)

Was hat sich im Zuge un­se­rer Edi­ti­on (HN 1233) nun Neues er­ge­ben? Ei­ni­ge aus­ge­wähl­te Funde möch­te ich im Fol­gen­den vor­stel­len.

Im Kopf­satz fin­det sich gleich in T. 25 in der Vio­li­ne 2 eine be­mer­kens­wer­te No­ten­ab­wei­chung zwi­schen der von Dvořák au­to­ri­sier­ten Erst­aus­ga­be (er­schie­nen 1888 bei Sim­rock in Ber­lin) und dem Au­to­graph (das aber nicht di­rekt als Stich­vor­la­ge für die Erst­aus­ga­be dien­te). Wäh­rend die letz­te Note im Au­to­graph a2 lau­tet, ist sie in der Druck­aus­ga­be zu g2 ge­än­dert; auf­fäl­li­ger­wei­se aber nicht in der iden­ti­schen Wie­der­ho­lung der Phra­se in T. 27:


Au­to­graph, 1. Satz, T. 25–27, Vio­li­ne 2
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Na­tio­nal­mu­se­ums – Antonín Dvořák Mu­se­um, Prag


Erst­aus­ga­be Sim­rock 1888, Kla­vier­par­ti­tur, 1. Satz, T. 25–27
(Ver­wen­de­tes Ex­em­plar: Staats­bi­blio­thek zu Ber­lin, Si­gna­tur Mus. 1523)

Das g2 passt zu­ge­ge­be­ner­ma­ßen bes­ser in die C-dur-Har­mo­nie, und ein blo­ßes Ver­se­hen des Ste­chers ist hier wohl aus­zu­schlie­ßen, da er auch das Auf­lö­sungs­zei­chen er­gänz­te. Wenn es aber eine ab­sicht­li­che Kor­rek­tur Dvořáks war, warum wurde die Note dann nicht auch in T. 27 ge­än­dert? Und üb­ri­gens eben­falls nicht in der no­ten­ge­treu wie­der­hol­ten Par­al­lel­stel­le T. 235–237 (hier le­dig­lich einen Halb­ton tie­fer trans­po­niert):


Erst­aus­ga­be Sim­rock 1888, Kla­vier­par­ti­tur, 1. Satz, T. 235–237

Soll­te Dvořák diese drei ana­lo­gen Stel­len wirk­lich alle über­se­hen haben? Al­ter­na­tiv wäre denk­bar, dass das g2 doch auf einem Ver­se­hen be­ruht: im Au­to­graph kann man er­ken­nen, dass der No­ten­kopf von Dvořák mit roter Tinte nach­ge­malt wurde – mei­nes Er­ach­tens aber nur, um das a2 zu prä­zi­sie­ren, nicht als eine Kor­rek­tur zu g2 (mit feh­len­dem Auf­lö­ser). Der Ko­pist der Stich­vor­la­ge könn­te es aber den­noch als g2 in­ter­pre­tiert und das har­mo­nisch zwin­gend er­for­der­li­che Vor­zei­chen selbst er­gänzt haben. Da die Stich­vor­la­ge aber heute ver­schol­len ist, bleibt das reine Spe­ku­la­ti­on.

Auf­grund der un­si­che­ren Si­tua­ti­on haben wir daher in un­se­rer Edi­ti­on keine Ver­ein­heit­li­chung vor­ge­nom­men: wir be­las­sen das so­li­tä­re g2 in T. 25 wie in der Erst­aus­ga­be und wei­sen mit einer Fuß­no­te auf die Um­stän­de hin, so dass die Mu­si­ker hier selbst ent­schei­den kön­nen, ob sie es spie­len wie ge­druckt oder in die eine oder an­de­re Rich­tung an­glei­chen. Antonín Čubr wähl­te in sei­ner Edi­ti­on üb­ri­gens einen sa­lo­mo­ni­schen Kom­pro­miss: T. 27 wurde still­schwei­gend an T. 25 an­ge­gli­chen, die Par­al­lel­stel­le T. 235–237 aber un­ver­än­dert be­las­sen…

Im zwei­ten Satz, der ele­gi­schen Dumka, ist auf einen Takt in der Vio­li­ne 1 hin­zu­wei­sen, der in allen Quel­len und bis­he­ri­gen Aus­ga­ben einen ganz of­fen­sicht­lich fal­schen Rhyth­mus ent­hält. Im Vi­va­ce-Mit­tel­teil spie­len Vio­li­ne 1 und 2 eine län­ge­re Pas­sa­ge von T. 152–167 durch­ge­hend uni­so­no (im Ok­ta­vab­stand) – nur in T. 160 geht die Vio­li­ne 1 un­er­war­te­te Ei­gen­we­ge:


Erst­aus­ga­be Sim­rock 1888, Kla­vier­par­ti­tur, 2. Satz, T. 160–163

Mu­si­ka­lisch er­gibt dies na­tür­lich wenig Sinn, und ein Blick ins Au­to­graph zeigt, dass es sich si­cher um ein blo­ßes Schreib­ver­se­hen Dvořáks han­delt; die Noten von Vio­li­ne 1 und 2 ste­hen genau un­ter­ein­an­der (siehe rote Li­ni­en) und mei­nen den­sel­ben Rhyth­mus:


Au­to­graph, 2. Satz, T. 160–163, Vio­li­ne 1&2
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Na­tio­nal­mu­se­ums – Antonín Dvořák Mu­se­um, Prag

Viel­leicht hatte der Kom­po­nist noch den ver­setz­ten Rhyth­mus des Kla­viers (rech­te Hand) im Kopf? Der­sel­be Feh­ler wäre Dvořák üb­ri­gens zwei Takte spä­ter fast er­neut pas­siert: dort hatte er schon den Ver­län­ge­rungs­punkt nach der 1. Note ge­setzt (siehe Pfeil), no­tier­te dann aber die Bal­ken kor­rekt. In un­se­rer Edi­ti­on haben wir uns daher ent­schie­den, den Takt rhyth­misch an­zu­glei­chen, mit ent­spre­chen­dem Hin­weis:

Ins­ge­samt konn­ten wir durch den ge­nau­en Ver­gleich mit dem Au­to­graph eine Viel­zahl von klei­ne­ren und grö­ße­ren Stich­feh­lern der Erst­aus­ga­be auf­spü­ren und für un­se­re Edi­ti­on ver­bes­sern; stell­ver­tre­tend sei nur diese fal­sche Note cis1 im Fi­nal­satz T. 272 ge­nannt:


Erst­aus­ga­be Sim­rock 1888, Kla­vier­par­ti­tur, 4. Satz, T. 270–272


Au­to­graph, 4. Satz, T. 272, Kla­vier
Mit freund­li­cher Ge­neh­mi­gung des Na­tio­nal­mu­se­ums – Antonín Dvořák Mu­se­um, Prag

Über­ra­schen­der­wei­se war es aber der Ver­gleich von ver­schie­de­nen Auf­la­gen der Sim­rock-Aus­ga­be un­ter­ein­an­der, bei dem wir die viel­leicht wich­tigs­te Ent­de­ckung mach­ten. Und zwar ent­hal­ten alle nach Dvořáks Tod er­schie­ne­nen Nach­dru­cke un­ge­fähr ab 1909 (als die so­ge­nann­te „Volks­aus­ga­be“ in klei­ne­rem For­mat er­schien) ein Dut­zend zu­sätz­li­che Tem­po- und Vor­trags­an­ga­ben sowie Fin­ger­sät­ze im Kla­vier und sogar klei­ne Ein­grif­fe in den No­ten­text selbst. So wurde etwa ver­sucht, den eben er­wähn­ten No­ten­feh­ler im 4. Satz zu ver­bes­sern, was aber in Un­kennt­nis des Au­to­graphs in die ver­kehr­te Rich­tung ge­schah, so dass nun das fal­sche cis in bei­den Hän­den steht:


„Volks­aus­ga­be“ Sim­rock 1909, Kla­vier­par­ti­tur, 4. Satz, T. 270–272

Des Wei­te­ren steht im 1. Satz in T. 175 im Kla­vier ein frei er­gänz­tes b-Vor­zei­chen vor der 3. Note, das weder im Au­to­graph noch in den frü­hen Auf­la­gen zu fin­den ist – eben­falls eine Ver­schlimm­bes­se­rung, denn der cha­rak­te­ris­ti­sche Halb­ton­schritt zwi­schen 3. und 4. Note ist kor­rekt und tritt auch in allen ana­lo­gen Fi­gu­ren in T. 173–178 auf:


„Volks­aus­ga­be“ Sim­rock 1909, Kla­vier­par­ti­tur, 1. Satz, T. 173–178

Der für eine ori­gi­nal­ge­treue In­ter­pre­ta­ti­on aber wohl stö­rends­te Ein­griff sind die zu­sätz­li­chen Tem­po­vor­schrif­ten mit­ten in den Sät­zen, meist in Form von strin­gen­do – a tempo o. ä. Hier ein Bei­spiel aus dem 4. Satz mit einer er­gänz­ten Tem­po­ver­schlep­pung (und zu­sätz­li­chem Kla­vier­fin­gersatz):


Erst­aus­ga­be Sim­rock 1888, Kla­vier­par­ti­tur, 4. Satz, T. 260–272


„Volks­aus­ga­be“ Sim­rock 1909, Kla­vier­par­ti­tur, 4. Satz, T. 260–272

Woher stam­men diese Nach­trä­ge? Si­cher nicht vom Kom­po­nis­ten, der schon 1904 ge­stor­ben war, und für den ein sol­ches Vor­ge­hen auch sehr un­ty­pisch ge­we­sen wäre. Mein per­sön­li­cher Ver­dacht fällt auf den Pia­nis­ten und Ar­ran­geur A[ugust?] Schultz, der das Quin­tett op. 81 als Fas­sung für zwei Kla­vie­re be­ar­bei­te­te und 1905 bei Sim­rock ver­öf­fent­lich­te, pi­kan­ter­wei­se genau ein Jahr nach Dvořáks Tod – viel­leicht des­halb, weil die­ser nun nicht mehr pro­tes­tie­ren konn­te…? In Schultz’ Ar­ran­ge­ment fin­den sich be­reits exakt die glei­chen Kla­vier­fin­ger­sät­ze, No­ten­än­de­run­gen und Tem­po­zu­sät­ze, die dann 1909 in die Volks­aus­ga­be und die Nach­dru­cke der Ori­gi­nal­aus­ga­be über­nom­men wur­den, wohl als gut ge­mein­te „Ver­bes­se­run­gen“:


Be­ar­bei­tung für zwei Kla­vie­re, Sim­rock 1905, 4. Satz, T. 270–272


Be­ar­bei­tung für zwei Kla­vie­re, Sim­rock 1905, 1. Satz, T. 174–178


Be­ar­bei­tung für zwei Kla­vie­re, Sim­rock 1905, 4. Satz, T. 260–272

Un­glück­li­cher­wei­se ba­siert auch die Edi­ti­on der Ge­samt­aus­ga­be von 1955 auf einer pos­tu­men Auf­la­ge der Sim­rock-Aus­ga­be, so dass sich die un­au­to­ri­sier­ten Tem­po­er­gän­zun­gen bis heute in allen auf dem Markt er­hält­li­chen Aus­ga­ben wie­der­fin­den – ab­ge­se­hen na­tür­lich von un­se­rer Neu­aus­ga­be, die wie­der zum Ur­text von 1888 zu­rück­kehrt und den Mu­si­kern in Zu­kunft eine hof­fent­lich op­ti­ma­le Grund­la­ge für ihre In­ter­pre­ta­ti­on die­ses un­ver­gäng­li­chen Meis­ter­werks bie­tet!

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Eine Antwort auf »„Beendet in Vysoká zu einem hübschen Stündchen“ – neue Funde in Dvořáks Klavierquintett A-dur op. 81«

  1. Otto Andreas Fickert sagt:

    Zu Takt 25 Violine 2:
    Mir erscheint das a2 “richtiger” als das g2. Hierdurch entsteht ein leicht dissonanter und reizvoller Zusammenklang aus Tonika und Subdominante, der auch in vielen anderen Parallelstellen zu finden ist:
    z.B. T. 197-200 (in meiner Bärenreiter-Ausgabe sind anscheinend irgendwo 8 zusätzliche Takte eingeschoben, deshalb stimmen die Taktzahlen nicht mit denen der Henle-Augabe überein) pp in Ges-Dur,
    217-220 pp in C-Dur,
    223/224 Klavier allein, forte in c-Moll,
    231/232 Klavier allein, forte in es-Moll
    und schließlich die Ces-Dur Variante bei Buchstabe G (In meiner Bärenreiter-Ausgabe ist das T. 243-247.)
    Somit wäre das g2 im Takt 25 die einzige Ausnahme…
    Herzliche Grüße
    Otto Andreas Fickert

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