Giu­sep­pe Verdi (1813–1901), Fo­to­gra­fie von Fer­di­nand Mul­nier, um 1875

Un­se­re kürz­lich er­schie­ne­ne Neue­di­ti­on von Giu­sep­pe Ver­dis Streich­quar­tett in e-moll (Stu­di­en-Edi­ti­on HN 7588 sowie Ur­text-Stim­me­ne­di­ti­on HN 1588) war­tet mit einer klei­nen Sen­sa­ti­on auf. Denn der Her­aus­ge­ber, der Ver­di-For­scher An­selm Ger­hard, eme­ri­tier­ter Pro­fes­sor für Mu­sik­wis­sen­schaft in Bern, ent­deck­te vor kur­zem im Nach­lass des Kom­po­nis­ten eine bis dato un­be­kann­te Erst­fas­sung (als An­hang ent­hal­ten in HN 7588 sowie als Stim­me­ne­di­ti­on ver­füg­bar in der Henle Li­bra­ry App). Zur Ge­schich­te die­ser Ent­de­ckung und zu den Kon­se­quen­zen in der Ein­schät­zung die­ses ein­zi­gen grö­ße­ren Kam­mer­mu­sik­werks Ver­dis haben wir An­selm Ger­hard zu einem In­ter­view ge­be­ten.

Peter Jost (PJ): Der mu­si­ka­li­sche Nach­lass Ver­dis ist erst seit Herbst 2019 der For­schung zu­gäng­lich. Wie ist die­ser ex­trem späte Zeit­punkt, weit mehr als hun­dert Jahre nach dem Tod des Kom­po­nis­ten, zu er­klä­ren?

An­selm Ger­hard (AG): Wie im 19. Jahr­hun­dert üb­lich gin­gen die de­fi­ni­ti­ven Par­ti­tur­hand­schrif­ten von Ver­dis ita­lie­ni­schen Opern an den Ri­cor­di-Ver­lag in Mai­land (heute in der dor­ti­gen Na­tio­nal­bi­blio­thek), die­je­ni­gen der fran­zö­si­schen Opern an die Opéra in Paris. Die Ar­beits­ma­nu­skrip­te waren da­ge­gen Be­sitz des Kom­po­nis­ten. Was davon bei sei­nem Tod noch er­hal­ten war, ver­blieb in sei­ner Villa in Sant’Agata.

Die Ur­en­kel sei­ner Ad­op­tiv­toch­ter er­laub­ten in der zwei­ten Hälf­te des 20. Jahr­hun­derts hand­ver­le­se­nen For­sche­rin­nen und For­schern Zu­gang zu ein­zel­nen die­ser Be­stän­de, die Ur­ur­en­kel­ge­ne­ra­ti­on blo­ckier­te da­ge­gen sämt­li­che An­fra­gen. Dies wurde ir­gend­wann den staat­li­chen Auf­sichts­be­hör­den über Pri­vat­ar­chi­ve zu bunt. So wur­den in zwei Schrit­ten 2017 und 2019 diese Ma­nu­skrip­te de facto (und spä­ter auch de jure) ent­eig­net. Seit 2019 sind die mu­si­ka­li­schen Ma­nu­skrip­te im Staats­ar­chiv in Parma als Di­gi­ta­li­sa­te frei zu­gäng­lich, im Herbst 2022 konn­te ich zum ers­ten Mal auch die Ori­gi­na­le stu­die­ren.

PJ: Sie haben die im Nach­lass ent­hal­te­nen Mu­sik­hand­schrif­ten ver­mut­lich eher im Blick auf das Opern­schaf­fen durch­ge­se­hen? Oder gab es Hin­wei­se auf even­tu­ell vor­han­de­nes Ma­te­ri­al zum Streich­quar­tett?

AG: Zwar fin­den sich zu sämt­li­chen seit 1849 kom­po­nier­ten Opern Ma­te­ria­li­en, doch sind diese of­fen­sicht­lich nicht voll­stän­dig. So gibt es auf un­er­klär­li­che Weise keine ein­zi­ge Auf­zeich­nung zur 1864/65 in Sant’Agata kom­po­nier­ten Neu­fas­sung von Mac­beth, und im Ma­te­ri­al zu Otel­lo feh­len die ers­ten bei­den Akte fast voll­stän­dig. In­so­fern war es eine große Über­ra­schung, der­art um­fang­rei­ches Ma­te­ri­al zum Streich­quar­tett zu fin­den.

PJ: Die ei­gent­li­che Sen­sa­ti­on war dann aber die Ent­de­ckung von Ma­te­ria­li­en, die eine von der bis­her be­kann­ten Druck­fas­sung er­heb­lich ab­wei­chen­de Fas­sung zei­gen. Worum han­delt es sich hier genau?

AG: In den Ma­nu­skrip­ten aus Sant’Agata hat sich ein voll­stän­di­ger, von Verdi selbst kor­ri­gier­ter Stim­men­satz eines Be­rufs­ko­pis­ten er­hal­ten. Und au­ßer­dem eine mit die­sem Stim­men­satz über­ein­stim­men­de Par­ti­tur­hand­schrift Ver­dis, al­ler­dings nicht ganz voll­stän­dig. Nur ein Zu­fall dürf­te sie vor der Ver­nich­tung be­wahrt haben, denn alle Blät­ter sind in der Mitte zer­ris­sen, waren also sehr wahr­schein­lich für den Pa­pier­korb be­stimmt.

Von der ers­ten Seite der au­to­gra­phen Par­ti­tur der Erst­fas­sung hat sich nach dem Zer­rei­ßen in zwei Teile nur die un­te­re Hälf­te er­hal­ten (Parma, Ar­chi­vio di stato).

PJ: Erste Ent­wür­fe zum Streich­quar­tett kön­nen auf spä­tes­tens Herbst 1868 da­tiert wer­den. In­so­fern kann also die Kom­po­si­ti­on des Quar­tetts nicht so spon­tan – quasi als „Pau­sen­fül­ler“ in er­zwun­ge­nen Mu­ße­stun­den An­fang 1873 in Nea­pel – un­ter­nom­men wor­den sein, wie von Verdi selbst dar­ge­stellt?

AG: Wahr­schein­lich gibt es einen wah­ren Kern in Ver­dis of­fen­sicht­lich er­fun­de­ner Ge­schich­te um die spon­ta­ne Kom­po­si­ti­on des Quar­tetts wäh­rend einer un­er­war­te­ten Zwangs­pau­se in Nea­pel. (Zwei Sän­ge­rin­nen der dor­ti­gen Aida-Pro­duk­ti­on waren er­krankt, so dass die Pro­ben mehr­fach ver­scho­ben wer­den muss­ten.) Denn auch wenn Verdi schon über vier Jahre zuvor mit der Ar­beit an die­sem Werk be­gon­nen hatte, ist das Auf­füh­rungs­ma­te­ri­al der Erst­fas­sung of­fen­sicht­lich in größ­ter Hast her­ge­stellt wor­den. Der Ko­pist des voll­stän­dig er­hal­te­nen Stim­men­sat­zes hat an zahl­rei­chen Stel­len Kor­rek­tu­ren durch Über­kle­bun­gen aus­ge­führt. Und Verdi er­gänz­te in die­sen Stim­men ei­gen­hän­dig die lang­sa­me Ein­lei­tung zum Fi­nal­satz. Es ist also sehr plau­si­bel, dass Verdi in den ers­ten drei Mo­na­ten des Jah­res 1873 die Zeit nutz­te, um sein Streich­quar­tett, an dem er schon seit Jah­ren her­um­ge­dok­tert hatte, nun in einer ers­ten auf­führ­ba­ren Fas­sung zu fi­xie­ren.

Auf der ers­ten Seite der Ko­pis­ten­ab­schrift der Stim­me der Vio­li­ne I lässt sich er­ken­nen, dass Verdi in letz­ter Mi­nu­te die Über­lei­tungs­pas­sa­ge nach dem Kopf­the­ma er­wei­tert hat (Parma, Ar­chi­vio di stato).

PJ: Ver­bürgt ist die erste Auf­füh­rung des Streich­quar­tetts am 1. April 1873 im pri­va­ten Rah­men in einem Hotel in Nea­pel – wie si­cher ist die An­nah­me, dass dabei die Erst­fas­sung er­klang?

AG: Als Phi­lo­lo­ge soll­te ich vor­sich­tig sein: Die Quel­len über­lie­fern kein „was­ser­dich­tes“ Indiz dafür, dass der Stim­men­satz und die frag­men­ta­risch er­hal­te­ne au­to­gra­phe Par­ti­tur die Fas­sung do­ku­men­tie­ren, die 1873 zu hören war. Doch ist der Stim­men­satz of­fen­sicht­lich für eine Auf­füh­rung an­ge­fer­tigt wor­den, wie die hin­zu­ge­füg­ten Stu­dier­buch­sta­ben er­ken­nen las­sen. Da vor der Ur­auf­füh­rung der End­fas­sung in Paris 1876 das Quar­tett nur ein ein­zi­ges Mal auf­ge­führt wurde, ist Nea­pel 1873 also der ein­zi­ge denk­ba­re An­lass für die Er­stel­lung die­ser Hand­schrif­ten.

PJ: Könn­ten Sie so knapp wie mög­lich die Un­ter­schie­de zwi­schen der Erst- und der be­kann­ten End­fas­sung be­schrei­ben?

AG: Am grund­le­gends­ten hat Verdi den vier­ten Satz ver­än­dert: Mit fast dem­sel­ben mo­ti­vi­schen Ma­te­ri­al ist aus einer „süf­fi­gen“, me­lo­die­ge­sät­tig­ten, le­ga­to zu spie­len­den Fuge in mo­dera­tem Tempo ein ent­fes­sel­tes „Scher­zo“ ge­wor­den: Mit einem Tempo an der Gren­ze der Spiel­bar­keit und dem fast durch­gän­gi­gen Stac­ca­to scheint dem Satz jeg­li­ches „es­pres­si­vo“ aus­ge­trie­ben. In die­sel­be Rich­tung weist die Strei­chung der 1873 in letz­ter Mi­nu­te hin­zu­ge­füg­ten lang­sa­men Ein­lei­tung. Ganz ähn­lich auch im ers­ten Satz: Bei der Über­ar­bei­tung hat Verdi klang­lich ex­tra­va­gant wir­ken­de Pas­sa­gen er­gänzt, Über­lei­tungs­ab­schnit­te de­mons­trie­ren ein er­heb­li­ches Mehr an po­ly­pho­ner Am­bi­ti­on. Der drit­te Satz hin­ge­gen ist – bis auf die Me­tro­nom-An­ga­be – in bei­den Fas­sun­gen iden­tisch, der zwei­te le­dig­lich um ei­ni­ge kon­tras­tie­ren­de Pas­sa­gen er­wei­tert.

PJ: Auf der Grund­la­ge der Hen­le-Edi­ti­on prä­sen­tier­te das Vog­ler-Quar­tett am 27. März 2023, also fast genau 150 Jahre nach der ver­mu­te­ten Erst­auf­füh­rung 1873, in Leip­zig diese Erst­fas­sung im Rah­men eines Ge­sprächs­kon­zerts. Wie war Ihr Ein­druck?

AG: Die Erst­fas­sung ist we­ni­ger bril­lant als die be­kann­te Fas­sung, we­ni­ger ge­küns­telt, viel­leicht we­ni­ger aus­ge­feilt, doch in vie­lem spon­ta­ner. Also eine wirk­li­che Al­ter­na­ti­ve, die auf jeden Fall die Be­schäf­ti­gung und Auf­füh­rung lohnt.

HN 7588, S. 52: Be­ginn des Fi­na­les der Erst­fas­sung

PJ: Be­denkt man die über sie­ben Jahre wäh­ren­de Be­schäf­ti­gung mit dem Streich­quar­tett und au­ßer­dem den gro­ßen Er­folg die­ses Werks, drängt sich die Frage auf, warum Verdi keine wei­te­ren Ver­su­che auf die­sem Ge­biet un­ter­nom­men hat?

AG: Nun: In Ver­dis mu­si­ka­li­schen Ma­nu­skrip­ten fin­den sich auch Ent­wür­fe für ganz kurze Streich­quar­tett­sät­ze in F-Dur und G-Dur aus den Jah­ren um 1870, mög­li­cher­wei­se also Keim­zel­len an­de­rer ge­plan­ter Quar­tet­te. Doch hat diese Verdi nicht wei­ter aus­ge­ar­bei­tet. Ich ver­mu­te, dass der Zweck sei­nes Aus­flugs in die Strei­cher­kam­mer­mu­sik mit der Druck­ver­öf­fent­li­chung des Quar­tetts in e-moll im Herbst 1876 er­füllt war. Er hatte sich und der Welt zei­gen wol­len, dass ihm auch ty­pisch „deut­sche“ Qua­li­tä­ten zu Ge­bo­te stan­den: „durch­bro­che­ner“ Satz, po­ly­pho­ne Kunst­fer­tig­kei­ten, In­stru­men­tal­mu­sik ohne dra­ma­ti­sche Funk­ti­on. Denn die Un­ter­schie­de zwi­schen bei­den Fas­sun­gen wei­sen alle in die­sel­be Rich­tung: so kunst­fer­tig und so dicht wie mög­lich, um im (manch­mal nur schein­bar) kon­tra­punk­ti­schen Satz zu bril­lie­ren.

PJ: Lie­ber Herr Ger­hard, herz­li­chen Dank für die­ses In­ter­view.

Die­je­ni­gen, die es noch ge­nau­er wis­sen möch­ten, seien auf An­selm Ger­hards so­eben er­schie­ne­nen aus­führ­li­chen Auf­satz Eine Kom­po­si­ti­on „ohne die ge­rings­te Be­deu­tung“. Ver­dis Mu­ße­stun­den in Nea­pel und seine min­des­tens sie­ben Jahre wäh­ren­de Ar­beit am Streich­quar­tett in e-Moll, in: ver­di­per­spek­ti­ven 5/2020 [2022], S. 59–112, ver­wie­sen.

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