Unsere kürzlich erschienene Neuedition von Giuseppe Verdis Streichquartett in e-moll (Studien-Edition HN 7588 sowie Urtext-Stimmenedition HN 1588) wartet mit einer kleinen Sensation auf. Denn der Herausgeber, der Verdi-Forscher Anselm Gerhard, emeritierter Professor für Musikwissenschaft in Bern, entdeckte vor kurzem im Nachlass des Komponisten eine bis dato unbekannte Erstfassung (als Anhang enthalten in HN 7588 sowie als Stimmenedition verfügbar in der Henle Library App). Zur Geschichte dieser Entdeckung und zu den Konsequenzen in der Einschätzung dieses einzigen größeren Kammermusikwerks Verdis haben wir Anselm Gerhard zu einem Interview gebeten.
Peter Jost (PJ): Der musikalische Nachlass Verdis ist erst seit Herbst 2019 der Forschung zugänglich. Wie ist dieser extrem späte Zeitpunkt, weit mehr als hundert Jahre nach dem Tod des Komponisten, zu erklären?
Anselm Gerhard (AG): Wie im 19. Jahrhundert üblich gingen die definitiven Partiturhandschriften von Verdis italienischen Opern an den Ricordi-Verlag in Mailand (heute in der dortigen Nationalbibliothek), diejenigen der französischen Opern an die Opéra in Paris. Die Arbeitsmanuskripte waren dagegen Besitz des Komponisten. Was davon bei seinem Tod noch erhalten war, verblieb in seiner Villa in Sant’Agata.
Die Urenkel seiner Adoptivtochter erlaubten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts handverlesenen Forscherinnen und Forschern Zugang zu einzelnen dieser Bestände, die Ururenkelgeneration blockierte dagegen sämtliche Anfragen. Dies wurde irgendwann den staatlichen Aufsichtsbehörden über Privatarchive zu bunt. So wurden in zwei Schritten 2017 und 2019 diese Manuskripte de facto (und später auch de jure) enteignet. Seit 2019 sind die musikalischen Manuskripte im Staatsarchiv in Parma als Digitalisate frei zugänglich, im Herbst 2022 konnte ich zum ersten Mal auch die Originale studieren.
PJ: Sie haben die im Nachlass enthaltenen Musikhandschriften vermutlich eher im Blick auf das Opernschaffen durchgesehen? Oder gab es Hinweise auf eventuell vorhandenes Material zum Streichquartett?
AG: Zwar finden sich zu sämtlichen seit 1849 komponierten Opern Materialien, doch sind diese offensichtlich nicht vollständig. So gibt es auf unerklärliche Weise keine einzige Aufzeichnung zur 1864/65 in Sant’Agata komponierten Neufassung von Macbeth, und im Material zu Otello fehlen die ersten beiden Akte fast vollständig. Insofern war es eine große Überraschung, derart umfangreiches Material zum Streichquartett zu finden.
PJ: Die eigentliche Sensation war dann aber die Entdeckung von Materialien, die eine von der bisher bekannten Druckfassung erheblich abweichende Fassung zeigen. Worum handelt es sich hier genau?
AG: In den Manuskripten aus Sant’Agata hat sich ein vollständiger, von Verdi selbst korrigierter Stimmensatz eines Berufskopisten erhalten. Und außerdem eine mit diesem Stimmensatz übereinstimmende Partiturhandschrift Verdis, allerdings nicht ganz vollständig. Nur ein Zufall dürfte sie vor der Vernichtung bewahrt haben, denn alle Blätter sind in der Mitte zerrissen, waren also sehr wahrscheinlich für den Papierkorb bestimmt.
PJ: Erste Entwürfe zum Streichquartett können auf spätestens Herbst 1868 datiert werden. Insofern kann also die Komposition des Quartetts nicht so spontan – quasi als „Pausenfüller“ in erzwungenen Mußestunden Anfang 1873 in Neapel – unternommen worden sein, wie von Verdi selbst dargestellt?
AG: Wahrscheinlich gibt es einen wahren Kern in Verdis offensichtlich erfundener Geschichte um die spontane Komposition des Quartetts während einer unerwarteten Zwangspause in Neapel. (Zwei Sängerinnen der dortigen Aida-Produktion waren erkrankt, so dass die Proben mehrfach verschoben werden mussten.) Denn auch wenn Verdi schon über vier Jahre zuvor mit der Arbeit an diesem Werk begonnen hatte, ist das Aufführungsmaterial der Erstfassung offensichtlich in größter Hast hergestellt worden. Der Kopist des vollständig erhaltenen Stimmensatzes hat an zahlreichen Stellen Korrekturen durch Überklebungen ausgeführt. Und Verdi ergänzte in diesen Stimmen eigenhändig die langsame Einleitung zum Finalsatz. Es ist also sehr plausibel, dass Verdi in den ersten drei Monaten des Jahres 1873 die Zeit nutzte, um sein Streichquartett, an dem er schon seit Jahren herumgedoktert hatte, nun in einer ersten aufführbaren Fassung zu fixieren.
PJ: Verbürgt ist die erste Aufführung des Streichquartetts am 1. April 1873 im privaten Rahmen in einem Hotel in Neapel – wie sicher ist die Annahme, dass dabei die Erstfassung erklang?
AG: Als Philologe sollte ich vorsichtig sein: Die Quellen überliefern kein „wasserdichtes“ Indiz dafür, dass der Stimmensatz und die fragmentarisch erhaltene autographe Partitur die Fassung dokumentieren, die 1873 zu hören war. Doch ist der Stimmensatz offensichtlich für eine Aufführung angefertigt worden, wie die hinzugefügten Studierbuchstaben erkennen lassen. Da vor der Uraufführung der Endfassung in Paris 1876 das Quartett nur ein einziges Mal aufgeführt wurde, ist Neapel 1873 also der einzige denkbare Anlass für die Erstellung dieser Handschriften.
PJ: Könnten Sie so knapp wie möglich die Unterschiede zwischen der Erst- und der bekannten Endfassung beschreiben?
AG: Am grundlegendsten hat Verdi den vierten Satz verändert: Mit fast demselben motivischen Material ist aus einer „süffigen“, melodiegesättigten, legato zu spielenden Fuge in moderatem Tempo ein entfesseltes „Scherzo“ geworden: Mit einem Tempo an der Grenze der Spielbarkeit und dem fast durchgängigen Staccato scheint dem Satz jegliches „espressivo“ ausgetrieben. In dieselbe Richtung weist die Streichung der 1873 in letzter Minute hinzugefügten langsamen Einleitung. Ganz ähnlich auch im ersten Satz: Bei der Überarbeitung hat Verdi klanglich extravagant wirkende Passagen ergänzt, Überleitungsabschnitte demonstrieren ein erhebliches Mehr an polyphoner Ambition. Der dritte Satz hingegen ist – bis auf die Metronom-Angabe – in beiden Fassungen identisch, der zweite lediglich um einige kontrastierende Passagen erweitert.
PJ: Auf der Grundlage der Henle-Edition präsentierte das Vogler-Quartett am 27. März 2023, also fast genau 150 Jahre nach der vermuteten Erstaufführung 1873, in Leipzig diese Erstfassung im Rahmen eines Gesprächskonzerts. Wie war Ihr Eindruck?
AG: Die Erstfassung ist weniger brillant als die bekannte Fassung, weniger gekünstelt, vielleicht weniger ausgefeilt, doch in vielem spontaner. Also eine wirkliche Alternative, die auf jeden Fall die Beschäftigung und Aufführung lohnt.
PJ: Bedenkt man die über sieben Jahre währende Beschäftigung mit dem Streichquartett und außerdem den großen Erfolg dieses Werks, drängt sich die Frage auf, warum Verdi keine weiteren Versuche auf diesem Gebiet unternommen hat?
AG: Nun: In Verdis musikalischen Manuskripten finden sich auch Entwürfe für ganz kurze Streichquartettsätze in F-Dur und G-Dur aus den Jahren um 1870, möglicherweise also Keimzellen anderer geplanter Quartette. Doch hat diese Verdi nicht weiter ausgearbeitet. Ich vermute, dass der Zweck seines Ausflugs in die Streicherkammermusik mit der Druckveröffentlichung des Quartetts in e-moll im Herbst 1876 erfüllt war. Er hatte sich und der Welt zeigen wollen, dass ihm auch typisch „deutsche“ Qualitäten zu Gebote standen: „durchbrochener“ Satz, polyphone Kunstfertigkeiten, Instrumentalmusik ohne dramatische Funktion. Denn die Unterschiede zwischen beiden Fassungen weisen alle in dieselbe Richtung: so kunstfertig und so dicht wie möglich, um im (manchmal nur scheinbar) kontrapunktischen Satz zu brillieren.
PJ: Lieber Herr Gerhard, herzlichen Dank für dieses Interview.
Diejenigen, die es noch genauer wissen möchten, seien auf Anselm Gerhards soeben erschienenen ausführlichen Aufsatz Eine Komposition „ohne die geringste Bedeutung“. Verdis Mußestunden in Neapel und seine mindestens sieben Jahre währende Arbeit am Streichquartett in e-Moll, in: verdiperspektiven 5/2020 [2022], S. 59–112, verwiesen.