Serge Koussevitzky (1874-1951)

Kenner des Henle-Katalogs wissen bereits, dass der Dresdner Kontrabassist Tobias Glöckler bei uns regelmäßig mit exzellenten Neuausgaben für sein Instrument hervortritt. Nach den klassischen Solokonzerten (Dittersdorf, Vanhal, Hoffmeister) und Solostücken aus dem 19. Jahrhundert (Dragonetti, Rossini, Saint-Saëns) hat er sich nun an eines der großen romantischen Konzerte gesetzt: Serge Koussevitzkys 1905 in Moskau uraufgeführtes Kontrabasskonzert in fis-moll – eines der wichtigsten Werke überhaupt im Repertoire der Bassisten.

Klavierauszug und Studien-Edition der Partitur sind vor wenigen Wochen erschienen; Dirigierpartitur und Orchestermaterial dazu werden vom Leipziger Hofmeister-Verlag in Kürze vorgelegt. Damit haben die Kontrabassisten rund um den Globus jetzt eine verlässliche Grundlage für die Beschäftigung mit diesem zentralen Werk. Wie sehr diese bisher fehlte, schildert Herausgeber Tobias Glöckler im Gespräch.

Lieber Herr Glöckler, unglaublich, aber wahr: Jeder Bassist kennt das Kontrabasskonzert op. 3 von Serge Koussevitzky, aber erst 120 Jahre nach der Uraufführung erscheint nun die erste Urtext-Ausgabe. Wie sah die Lage denn bisher aus?

Tobias Glöckler

Koussevitzky hat es uns Bassisten wirklich nicht leicht gemacht. Seit Jahrzehnten vertrauen wir auf Notenausgaben, die im Kern alle auf die Erstausgabe des Klavierauszugs von 1906/07 zurückgehen. Leider wimmelte es darin nur so von Fehlern und Ungereimtheiten. In späteren Ausgaben konnten dann zumindest einige der offensichtlichsten Fehler korrigiert werden, vieles blieb aber widersprüchlich. Vor allem: Was soll ich spielen, wenn meine Kontrabass-Stimme auf dem Pult deutlich von der übergelegten Solostimme im zugehörigen Klavierauszug abweicht? Viele Kontrabassisten haben da sehr gut funktionierende, individuelle Lösungen gefunden, wie man regelmäßig bei Wettbewerben, Probespielen und auf Konzertpodien erleben kann. Trotzdem blieb – nicht nur bei mir – immer die Ungewissheit: Hat Koussevitzky das wirklich so gemeint?

Wie sind Sie als Herausgeber mit diesen Widersprüchen umgegangen?

Nun, zunächst habe ich mich auf die Suche nach verlässlichen Quellen begeben. Und siehe da: In Koussevitzkys Nachlass in der Library of Congress in Washington findet sich zwar kein Klavierauszug, sehr wohl aber eine handschriftliche Partitur und ein ebenfalls handschriftliches, bisher völlig unbeachtetes Stimmenmaterial! Beide Quellen sind auf russischem Papier geschrieben und wurden von Koussevitzky oft (wohl auch schon zur Moskauer Uraufführung) benutzt. Damit sind sie – im Gegensatz zur widersprüchlichen Erstausgabe des Klavierauszugs – eindeutig autorisiert. Die handschriftlichen Quellen offenbaren bereits in der Grundschicht viele interessante und bisher unbekannte Details. Geradezu faszinierend war es dann nachzuverfolgen, wie bei Aufführungen Koussevitzkys weitere Eintragungen in Partitur und Stimmensatz ergänzt wurden, Dynamik hinzugefügt und Fehler korrigiert wurden – kurz: wie sukzessive auf dem Konzertpodium eine „Fassung letzte Hand“ entstand. Diese weicht an vielen Stellen – teilweise sogar substanziell – von dem ab, was man aus bisherigen Notenausgaben kennt!

Können Sie an ein oder zwei Beispielen zeigen, was das genau heißt?

Die berühmten Doppelgriff-Passagen am Ende des 1. Satzes springen da sofort ins Auge. Aus dem Klavierauszug ist man gewohnt, dass die erste Passage (T. 128–131) nach 4 Takten schlicht noch einmal wiederholt wird (T. 136–139). In der handschriftlichen Partitur aus Koussevitzkys Nachlass hingegen findet sich eine deutlich spannendere Fassung: Die erste Passage setzt die Doppelgriff-Sequenz zunächst konsequent bis zum Ende (T. 131) fort. Erst in der zweiten Passage wird durch einen geänderten Doppelgriff und die dann einstimmige Melodieführung am Ende der Passage (T. 139) eine höchst effektvolle harmonische und dramaturgische Steigerung erzielt. Da auch das Stimmenmaterial  in beiden Takten mit der jeweiligen Unterstimme des Soloparts übereinstimmt, gibt es keinen Zweifel, dass Koussevitzky beide Passagen genau so spielte:

Solostimme, Satz I, T. 131

Solostimme, Satz I, T. 139

 

Und dann kamen ja auch noch weitere Quellen ins Spiel, nicht wahr?

Ja, das stimmt: Zusätzlich wurden zwei weitere, einzigartige Quellen einbezogen, nämlich die von Koussevitzky selbst 1928 und 1929 auf dem damals völlig neuen Medium der Schallplatte eingespielten Tonaufnahmen des 2. Satzes.

Auf dieser Grundlage konnte auch endlich die seit Jahrzenten diskutierte Frage befriedigend geklärt werden, ob das Ende des 2. Satz (T. 91 ff.) abweichend vom Klavierauszug eine Oktave höher im Flageolett zu spielen sei: Sowohl die Eintragungen in der Partitur als auch die beiden Tonaufnahmen Koussevitzkys belegen eindeutig die oktavierte Spielweise im Flageolett:

Solostimme, Satz II, T. 89 ff.

 

Es war aber nicht alles „falsch“ in den bisherigen Ausgaben, oder?

Natürlich nicht! Von den Fehlern und Ungereimtheiten einmal abgesehen, finden sich in der Erstausgabe des Klavierauszugs durchaus musikalisch sinnvolle Varianten zur handschriftlichen Partitur. Ein schönes Beispiel dafür ist die Wiederaufnahme des Themas in T. 45 des 1. und 3. Satzes. Die Partitur bringt hier durch die Überbindung eine rhythmische Veränderung des Themenkopfs, die Erstausgabe belässt ihn dagegen unverändert. Ist das nun ein Schreibfehler in der Partitur oder eine bewusste Variation? Wirklich schwer zu entscheiden…

Solostimme, Satz I, T. 21 f.

Solostimme, Satz I, T. 45 f.

Auch im 3. Satz sei auf ein interessantes Detail hingewiesen: Nach einem Zwischenspiel übernimmt der Solo-Kontrabass den triumphalen Gestus des Orchesters (T. 65 ff.). Hier hat man ebenfalls die Qual der Wahl: Blendet man sich mit einem Viertel-Auftakt passend zum musikalischen Fluss der Streicher ein (Variante im Klavierauszug) oder betont man mit einem Achtel-Auftakt bewusst den Einsatz des Soloinstruments (wie in der Partitur)? Letzteres korrespondiert perfekt mit den Flöten und setzt deren Linie fort…

Studien-Edition HN 7451, S. 54, Satz III, T. 64–68

Wie sind Sie in der Edition mit den verschiedenen Varianten der Solostimme umgegangen?

Die neue Urtextausgabe folgt prinzipiell den beiden handschriftlichen Quellen aus Koussevitzkys Nachlass. An den Stellen, wo die Tonaufnahmen oder der Klavierauszug musikalisch sinnvolle Varianten bieten, werden diese in Kleinstich (als Ossia) direkt dem Haupttext überlegt oder in Fußnoten beschrieben. Damit werden die Unterschiede in der Überlieferung an Ort und Stelle auf einen Blick transparent, ohne dass die umfangreichen Einzelbemerkungen konsultiert werden müssen. Jeder Kontrabassist kann so die für seine Interpretation optimale Variante frei auswählen! Ebenso willkommen dürfte auch die Tenorschlüssel-freie Notation in der Solostimme der Neuausgabe sein.

Ergeben sich aus den handschriftlichen Quellen und Koussevitzkys Tonaufnahmen auch aufführungspraktische Konsequenzen?

Ich denke schon. Insbesondere die Tonaufnahmen sind äußerst aufschlussreiche historische Dokumente, auch wenn Koussevitzky selbst nie wirklich zufrieden damit war. Neben einer sehr individuellen Spielweise bezüglich Klang, Vibrato und Portamento überraschen besonders Koussevitzkys sehr variable Tempi. Dies betrifft übrigens auch die Ecksätze, wo in der Partitur (im Gegensatz zum Klavierauszug) ebenfalls häufig wechselnde Tempoangaben notiert sind. Diese Flexibilität im Tempo dürfte aufführungspraktisch auch heute noch relevant sein. Eine weitere Beobachtung betrifft die unbegleiteten Solopassagen am Beginn des 1. bzw. 3. Satzes, die heute oftmals sehr langsam gespielt werden, manchmal geradezu Ton für Ton buchstabiert. In der Partitur sind hier Bindungen notiert (T. 7, 17), die – bei aller interpretatorischen Freiheit – einem zu langsamen Tempo schon bogentechnisch Grenzen setzen. Zudem ist in der Partitur kurz zuvor noch accelerando notiert…

Als Kontrabassist hatte ich insgeheim gehofft, in den Handschriften noch irgendwo eine Solokadenz zu entdecken. Leider findet sich nichts dergleichen. In den Quellen gibt es auch sonst keinerlei Anhaltspunkte, dass Koussevitzky bei seinen Aufführungen jemals eine Kadenz spielte.

Was bedeutet die Quellenlage für den Henle-Klavierauszug?

Unter Einbeziehung des handschriftlichen Stimmenmaterials wurde zunächst eine Orchesterpartitur erstellt, die ebenfalls im Henle Verlag als Studien-Edition erschienen ist. Auf dieser gesicherten Textbasis entstand dann ein komplett neuer, gut spielbarer Klavierauszug von Christoph Sobanski, der in zwei Tonarten wiedergegeben wird: eine für Solo- und eine für Orchesterstimmung des Kontrabasses. Neben vielen neuen Details findet sich am Endes des 1. Satzes eine handfeste Überraschung: Die Pianisten müssen sich nun nicht mehr den Kopf zerbrechen, wie sie den in bisherigen Klavierauszügen attacca in den 2. Satz übergehenden Satz beenden, wenn (wie häufig bei Prüfungen oder Probespielen) nur der 1. Satz gespielt wird. Hierfür gibt es in den Quellen einen wirkungsvollen „richtigen“ Schluss, der erkennbar auch von Koussevitzky gespielt wurde. Selbstverständlich wurde dieser Alternative Schluss als Option in die Urtextausgabe übernommen:

Klavierauszug HN 1451, Satz I, T. 143–Ende

 

Last but not least: Es gab immer wieder Zweifel, ob das Konzert wirklich von Koussevitzky komponiert wurde. Haben Sie dazu Neuigkeiten parat?

Nicht wirklich. Es gibt starke Indizien, dass das Konzert zu großen Teilen von Reinhold Glière (1875-1956) geschrieben wurde. Andererseits reklamierte Koussevitzky die Komposition des Konzerts öffentlich für sich. Die Äußerungen von Zeitzeugen ergeben ebenfalls ein widersprüchliches Bild (weitere Details dazu finden sich im Vorwort). Da trotz Einsicht in verschiedenste Quellen (siehe Bemerkungen) und umfangreicher Recherche – auch in Richtung Glière – kein eindeutiger Gegenbeweis gefunden wurde, geht die Neuausgabe weiterhin von Koussevitzky als Komponisten des Werkes aus. Übrigens: Für mich als Musiker ist dieses Thema ohnehin eher nebensächlich, zumal es nichts am Notentext ändert. Wer immer das Werk geschrieben haben mag – es ist tolle Musik und wir Kontrabassisten sind glücklich, dieses Konzert zu haben!

Diesem schönen Schlusswort ist nichts hinzuzufügen – vielen Dank für das Interview, Herr Glöckler!

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