Links Mau­rice Ravel am Pa­ri­ser Con­ser­va­toire 1895

Kommt man neu in ein Un­ter­neh­men, ist es sehr an­ge­nehm, wenn einem die Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen lie­be­voll das Ter­rain be­rei­ten. Die Idee, mir bei mei­nem Ein­stieg in den G. Henle Ver­lag als erste Edi­ti­on die über­schau­ba­re Sérénade gro­tes­que von Mau­rice Ravel (1875–1937) auf den Tisch zu legen, zeug­te somit von gro­ßer Zu­wen­dung – und dien­te al­len­falls se­kun­där dazu, mir ein biss­chen auf die Fin­ger zu schau­en, wie ich mit die­sem Stück in re­la­ti­ver kur­zer Zeit sämt­li­che Ar­beits­schrit­te, die zu einer Ur­text­edi­ti­on ge­hö­ren, durch­lau­fe. Was nie­mand ahnte: Das Stück er­wies sich bald als klei­ne Teu­fe­lei, deren Be­wäl­ti­gung den kom­plet­ten edi­to­ri­schen Werk­zeug­kas­ten er­for­dert. Ob­wohl sich der Quel­len­ver­gleich weit­ge­hend auf das Au­to­graph und die pos­tu­me Erst­aus­ga­be be­schrän­ken kann, quillt er über vor Un­ter­schie­den der bei­den No­ten­tex­te, die es in den Griff zu be­kom­men gilt.

Mau­rice Ravel: Sérénade gro­tes­que, Aus­schnitt aus dem Quel­len­ver­gleich zwi­schen Au­to­graph und pos­tu­mer Erst­aus­ga­be (Edi­ti­ons Sa­l­a­bert 1975)

Die Sérénade gro­tes­que gilt als Ra­vels frü­hes­te er­hal­te­ne Kla­vier­kom­po­si­ti­on. Ge­schrie­ben hat er sie um 1893 als Stu­dent am Pa­ri­ser Kon­ser­va­to­ri­um, und nicht von un­ge­fähr kommt, dass sein Leh­rer Émile Pes­sard einst ein wenig über­for­dert war, als Ravel das Stück in den Un­ter­richt mit­brach­te. Erst woll­te der Leh­rer die Sérénade selbst durch­spie­len, doch nach we­ni­gen Au­gen­bli­cken über­ließ er den Kla­vier­ho­cker Ravel und mein­te an­schlie­ßend, der Herr Stu­dent habe da aber ei­ni­ge Ab­son­der­lich­kei­ten zu Pa­pier ge­bracht – wer weiß, wo­mög­lich er­le­be man in die­sem Stück einen neuen Stil. (Über­lie­fert ist diese Si­tua­ti­on von Ra­vels Stu­di­en­freund Gus­t­ave Mou­chet.) Tat­säch­lich – hier sei die Ur­auf­füh­rungs­kri­tik in der New York Times aus dem Jahr 1975 her­bei­zi­tiert – ist in die­sem Stück be­reits et­li­ches davon zu er­le­ben, was Ra­vels Musik spä­ter aus­zeich­nen soll­te. Bei­spiels­wei­se kann man die Sérénade wie Al­bo­ra­da del gra­cio­so aus Mi­ro­irs in einem gi­tar­ris­ti­schen Zu­sam­men­hang be­trach­ten. Gleich zu Be­ginn steht die Vor­trags­an­wei­sung „piz­zi­ca­tis­si­mo“ – die bringt schon eine ganze Menge zum Aus­druck: Als tech­ni­sche Spiel­an­wei­sung er­gä­be sie nur auf einem Zupf­in­stru­ment Sinn. Für das Kla­vier be­schreibt sie eine in­ter­pre­ta­to­ri­sche Hal­tung und passt damit ganz vor­züg­lich zu den von Se­kund­rei­bun­gen durch­zo­ge­nen, hart stac­ca­tiert und zu­gleich ar­peg­giert an­zu­schla­gen­den Ak­kor­den, die den An­fang prä­gen.

Be­ginn mit mar­kan­ten Vor­trags­an­wei­sun­gen und prä­gnan­ten „Gi­tar­ren­ak­kor­den“ (Hen­le-Ur­text)

In der Summe der Merk­ma­le stellt sich der Ein­druck einer mit Ras­guea­do-An­schlag („strumming“ ist das ge­läu­fi­ge eng­li­sche Wort) ge­spiel­ten Fla­men­co-Gi­tar­re ein. Und wirk­lich dürf­te die Sérénade im Zu­sam­men­wir­ken ihrer mu­si­ka­li­schen Teile die Ad­ap­ti­on eines abend­li­chen Gi­tar­ren­ständ­chens sein. Keine bie­de­re Ad­ap­ti­on, son­dern eine hin­ter­sin­ni­ge: Nicht Piz­zi­ka­to soll man spie­len, son­dern „piz­zi­ca­tis­si­mo“, nicht nur mar­kant, son­dern „très rude“ (sehr grob), spä­ter „très sec“ (sehr tro­cken), bald dar­auf „très sen­ti­men­tal“ (das be­darf kei­ner Über­set­zung). Ohne „sehr“ und ma­xi­ma­le Stei­ge­rung tut es Ravel nicht, und ge­ra­de das macht das Stück so ver­gnüg­lich. Wes­halb soll­te sich ein 18-Jäh­ri­ger auch in Con­ten­an­ce üben. Ravel hat sich hier stark kon­tras­tie­ren­de Aus­drucks­mo­men­te aus­ge­dacht und ze­le­briert sie mit Freu­de an der iro­ni­schen Über­zeich­nung. Zwar steht auf dem Ma­nu­skript als Titel nur „Se­re­na­de“, aber der Zu­satz „gro­tes­que“ ist keine cha­rak­te­ri­sie­ren­de Er­fin­dung der Nach­welt, son­dern von Ravel selbst über­lie­fert. Auch sein Vor­bild bei die­sem Stück hat er selbst be­nannt: den fran­zö­si­schen Kom­po­nis­ten Em­ma­nu­el Cha­b­rier, dem er per­sön­lich be­geg­net war (kon­kret dürf­te ihn des­sen Bourée fan­tas­que in­spi­riert haben – eben­falls im Hen­le-Ur­text ver­füg­bar, HN 1162).

Un­se­re Ur­text-Aus­ga­be der Sérénade gro­tes­que (HN 1590) er­scheint pas­send zum be­gin­nen­den Ra­vel-Jahr, und ganz wun­der­voll finde ich, dass die­ses ex­tra­va­gan­te Stück im ei­gens für uns er­stell­ten Fin­gersatz des Pia­nis­ten Cédric Ti­ber­ghi­en eine Ent­spre­chung ge­fun­den hat: Die un­ters­te Note des Schluss­ak­kords zum Bei­spiel möch­te Ti­ber­ghi­en mit drei Fin­gern an­schla­gen, alle drei auf einer ein­zi­gen Kla­vier­tas­te eng ver­eint. Wer auf Be­we­gungs­öko­no­mie beim In­stru­men­tal­spiel ach­tet, mag das wi­der­sin­nig fin­den. Bei ge­naue­rer Be­trach­tung aber ist die­ser Fin­gersatz ein Kunst­werk für sich, das den Cha­rak­ter der Musik fein­sin­nig auf­greift. Zu die­sem Schluss­ak­kord gleich noch mehr.

Schluss­ak­kord mit dem ex­tra­va­gan­ten Fin­gersatz von Cédric Ti­ber­ghi­en

Denn zu er­läu­tern ist ja noch, wes­halb die Sérénade gro­tes­que auch edi­to­risch die ge­nann­te klei­ne Teu­fe­lei ist: Der Grund ist in der Über­lie­fe­rung zu sehen. Ravel schrieb die­ses Stück nicht für die Ver­öf­fent­li­chung (des­halb auch die späte Ur­auf­füh­rung 38 Jahre nach Ra­vels Tod). Das Au­to­graph ist die ein­zi­ge „echte“ Quel­le – und vol­ler Un­zu­läng­lich­kei­ten. Der An­fang liest sich noch recht be­frie­di­gend: Mit vie­len Ar­ti­ku­la­ti­ons- und Dy­na­mik­an­ga­ben ist der No­ten­text de­tail­liert be­zeich­net (wobei schon manch Un­ein­heit­li­ches auf­fällt). Doch je wei­ter das Stück vor­an­schrei­tet, desto we­ni­ger hat Ravel über die blo­ßen Noten hin­aus aufs Pa­pier ge­schrie­ben, und selbst der Ba­sis-No­ten­text weist ir­gend­wann plötz­lich eine ganz­tak­ti­ge Lücke in der lin­ken Hand auf. Soll hier nichts ge­spielt wer­den? Soll kei­ner­lei Laut­stär­ken­un­ter­schied oder sons­ti­ge Ab­stu­fung des Tas­ten­an­schlags mehr ge­macht wer­den? Das wäre un­sin­nig. Dass Ravel diese mu­si­ka­li­schen Pa­ra­me­ter mehr und mehr unter den Tisch fal­len ließ, hat den Grund, dass das Stück aus wie­der­keh­ren­den Form­tei­len auf­ge­baut ist – und Ravel spar­te sich ein­fach die Mühe, jedes Mal die­sel­be Fülle an Zei­chen zu schrei­ben.

In einer Edi­ti­on aber müs­sen diese Lü­cken na­tür­lich durch Ana­lo­gie­schlüs­se und durch ein be­hut­sa­mes Auf­räu­men all der klei­nen Un­acht­sam­kei­ten ge­schlos­sen wer­den. Die pos­tu­me Erst­aus­ga­be des Ra­vel-Ken­ners Arbie Oren­stein (der die Sérénade wie­der­ent­deck­te und ur­auf­führ­te) von 1975 leis­tet dies­be­züg­lich viel, ist an man­chen Stel­len aber übers Ziel hin­aus­ge­schos­sen. Un­se­re Ur­text­aus­ga­be bleibt, wo mög­lich, näher am Au­to­graph. Sie er­hält auf­fäl­li­ge No­ta­ti­ons­ei­gen­hei­ten Ra­vels wie die mit so­ge­nann­ten Kir­sch­no­ten wie­der­ge­ge­be­nen gleich­zei­tig er­klin­gen­den Noten fes1 und fis1 in­ner­halb eines Ak­kords (in der Erst­aus­ga­be ist diese Stel­le en­har­mo­nisch ge­glät­tet).

Wohl­schme­cken­de Kir­sch­no­ten im Hen­le-Ur­text

Die wohl wich­tigs­te Neue­rung ge­gen­über dem bis­lang ver­füg­ba­ren No­ten­text aber ist der Schluss­ak­kord. Hier be­rei­nigt un­se­re Aus­ga­be eine wirk­li­che klang­li­che Ver­fäl­schung und zeigt das Ende des Stü­ckes so, wie Ravel es im Au­to­graph tat­säch­lich kom­po­nier­te: Der Schluss­ak­kord hat bei Ravel kein Bass­fun­da­ment. Das un­te­re Sys­tem ist leer. Und an die­ser Stel­le ist das auch keine Un­ter­las­sung, denn die von der tie­fen Bass­quin­te im vor­letz­ten Takt aus­ge­hen­den Le­ga­to­bö­gen lässt Ravel beide in gro­ßem Schwung ins obere Sys­tem mün­den. Der Schluss­ak­kord selbst ist aus­schließ­lich in der zwei­ten und drit­ten Ok­ta­ve in hoher Lage an­ge­sie­delt, und damit er klang­lich auch tat­säch­lich für sich al­lei­ne steht, hat Ravel sogar das Pedal recht­zei­tig auf­ge­ho­ben. Klingt dem­ge­gen­über der voll­grif­fi­ge Schluss­ak­kord mit über­ge­bun­de­ner Bass­quin­te aus Oren­steins Erst­aus­ga­be nicht pia­nis­tisch ein­drucks­vol­ler?

Oben: letz­te Ak­ko­la­de mit dem erst­mals gemäß Au­to­graph edi­tier­ten Schluss­ak­kord
(Hen­le-Ur­text 2024)
Unten: letz­te Ak­ko­la­de mit Schluss­ak­kord in der Va­ri­an­te der pos­tu­men Erst­aus­ga­be
(Edi­ti­ons Sa­l­a­bert 1975)

Viel­leicht. Aber die Sérénade ist eben kein vom Kla­vier aus ge­dach­tes Stück, son­dern ein pia­nis­ti­sches Gi­tar­ren­ständ­chen, und als sol­ches endet es im Hen­le-Ur­text mit Ra­vels ori­gi­na­lem, lich­tem Fla­geo­lett-Ak­kord – sogar mit drei Fin­gern auf der un­ters­ten Note.

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