Kommt man neu in ein Unternehmen, ist es sehr angenehm, wenn einem die Kolleginnen und Kollegen liebevoll das Terrain bereiten. Die Idee, mir bei meinem Einstieg in den G. Henle Verlag als erste Edition die überschaubare Sérénade grotesque von Maurice Ravel (1875–1937) auf den Tisch zu legen, zeugte somit von großer Zuwendung – und diente allenfalls sekundär dazu, mir ein bisschen auf die Finger zu schauen, wie ich mit diesem Stück in relativer kurzer Zeit sämtliche Arbeitsschritte, die zu einer Urtextedition gehören, durchlaufe. Was niemand ahnte: Das Stück erwies sich bald als kleine Teufelei, deren Bewältigung den kompletten editorischen Werkzeugkasten erfordert. Obwohl sich der Quellenvergleich weitgehend auf das Autograph und die postume Erstausgabe beschränken kann, quillt er über vor Unterschieden der beiden Notentexte, die es in den Griff zu bekommen gilt.
Die Sérénade grotesque gilt als Ravels früheste erhaltene Klavierkomposition. Geschrieben hat er sie um 1893 als Student am Pariser Konservatorium, und nicht von ungefähr kommt, dass sein Lehrer Émile Pessard einst ein wenig überfordert war, als Ravel das Stück in den Unterricht mitbrachte. Erst wollte der Lehrer die Sérénade selbst durchspielen, doch nach wenigen Augenblicken überließ er den Klavierhocker Ravel und meinte anschließend, der Herr Student habe da aber einige Absonderlichkeiten zu Papier gebracht – wer weiß, womöglich erlebe man in diesem Stück einen neuen Stil. (Überliefert ist diese Situation von Ravels Studienfreund Gustave Mouchet.) Tatsächlich – hier sei die Uraufführungskritik in der New York Times aus dem Jahr 1975 herbeizitiert – ist in diesem Stück bereits etliches davon zu erleben, was Ravels Musik später auszeichnen sollte. Beispielsweise kann man die Sérénade wie Alborada del gracioso aus Miroirs in einem gitarristischen Zusammenhang betrachten. Gleich zu Beginn steht die Vortragsanweisung „pizzicatissimo“ – die bringt schon eine ganze Menge zum Ausdruck: Als technische Spielanweisung ergäbe sie nur auf einem Zupfinstrument Sinn. Für das Klavier beschreibt sie eine interpretatorische Haltung und passt damit ganz vorzüglich zu den von Sekundreibungen durchzogenen, hart staccatiert und zugleich arpeggiert anzuschlagenden Akkorden, die den Anfang prägen.
In der Summe der Merkmale stellt sich der Eindruck einer mit Rasgueado-Anschlag („strumming“ ist das geläufige englische Wort) gespielten Flamenco-Gitarre ein. Und wirklich dürfte die Sérénade im Zusammenwirken ihrer musikalischen Teile die Adaption eines abendlichen Gitarrenständchens sein. Keine biedere Adaption, sondern eine hintersinnige: Nicht Pizzikato soll man spielen, sondern „pizzicatissimo“, nicht nur markant, sondern „très rude“ (sehr grob), später „très sec“ (sehr trocken), bald darauf „très sentimental“ (das bedarf keiner Übersetzung). Ohne „sehr“ und maximale Steigerung tut es Ravel nicht, und gerade das macht das Stück so vergnüglich. Weshalb sollte sich ein 18-Jähriger auch in Contenance üben. Ravel hat sich hier stark kontrastierende Ausdrucksmomente ausgedacht und zelebriert sie mit Freude an der ironischen Überzeichnung. Zwar steht auf dem Manuskript als Titel nur „Serenade“, aber der Zusatz „grotesque“ ist keine charakterisierende Erfindung der Nachwelt, sondern von Ravel selbst überliefert. Auch sein Vorbild bei diesem Stück hat er selbst benannt: den französischen Komponisten Emmanuel Chabrier, dem er persönlich begegnet war (konkret dürfte ihn dessen Bourée fantasque inspiriert haben – ebenfalls im Henle-Urtext verfügbar, HN 1162).
Unsere Urtext-Ausgabe der Sérénade grotesque (HN 1590) erscheint passend zum beginnenden Ravel-Jahr, und ganz wundervoll finde ich, dass dieses extravagante Stück im eigens für uns erstellten Fingersatz des Pianisten Cédric Tiberghien eine Entsprechung gefunden hat: Die unterste Note des Schlussakkords zum Beispiel möchte Tiberghien mit drei Fingern anschlagen, alle drei auf einer einzigen Klaviertaste eng vereint. Wer auf Bewegungsökonomie beim Instrumentalspiel achtet, mag das widersinnig finden. Bei genauerer Betrachtung aber ist dieser Fingersatz ein Kunstwerk für sich, das den Charakter der Musik feinsinnig aufgreift. Zu diesem Schlussakkord gleich noch mehr.
Denn zu erläutern ist ja noch, weshalb die Sérénade grotesque auch editorisch die genannte kleine Teufelei ist: Der Grund ist in der Überlieferung zu sehen. Ravel schrieb dieses Stück nicht für die Veröffentlichung (deshalb auch die späte Uraufführung 38 Jahre nach Ravels Tod). Das Autograph ist die einzige „echte“ Quelle – und voller Unzulänglichkeiten. Der Anfang liest sich noch recht befriedigend: Mit vielen Artikulations- und Dynamikangaben ist der Notentext detailliert bezeichnet (wobei schon manch Uneinheitliches auffällt). Doch je weiter das Stück voranschreitet, desto weniger hat Ravel über die bloßen Noten hinaus aufs Papier geschrieben, und selbst der Basis-Notentext weist irgendwann plötzlich eine ganztaktige Lücke in der linken Hand auf. Soll hier nichts gespielt werden? Soll keinerlei Lautstärkenunterschied oder sonstige Abstufung des Tastenanschlags mehr gemacht werden? Das wäre unsinnig. Dass Ravel diese musikalischen Parameter mehr und mehr unter den Tisch fallen ließ, hat den Grund, dass das Stück aus wiederkehrenden Formteilen aufgebaut ist – und Ravel sparte sich einfach die Mühe, jedes Mal dieselbe Fülle an Zeichen zu schreiben.
In einer Edition aber müssen diese Lücken natürlich durch Analogieschlüsse und durch ein behutsames Aufräumen all der kleinen Unachtsamkeiten geschlossen werden. Die postume Erstausgabe des Ravel-Kenners Arbie Orenstein (der die Sérénade wiederentdeckte und uraufführte) von 1975 leistet diesbezüglich viel, ist an manchen Stellen aber übers Ziel hinausgeschossen. Unsere Urtextausgabe bleibt, wo möglich, näher am Autograph. Sie erhält auffällige Notationseigenheiten Ravels wie die mit sogenannten Kirschnoten wiedergegebenen gleichzeitig erklingenden Noten fes1 und fis1 innerhalb eines Akkords (in der Erstausgabe ist diese Stelle enharmonisch geglättet).
Die wohl wichtigste Neuerung gegenüber dem bislang verfügbaren Notentext aber ist der Schlussakkord. Hier bereinigt unsere Ausgabe eine wirkliche klangliche Verfälschung und zeigt das Ende des Stückes so, wie Ravel es im Autograph tatsächlich komponierte: Der Schlussakkord hat bei Ravel kein Bassfundament. Das untere System ist leer. Und an dieser Stelle ist das auch keine Unterlassung, denn die von der tiefen Bassquinte im vorletzten Takt ausgehenden Legatobögen lässt Ravel beide in großem Schwung ins obere System münden. Der Schlussakkord selbst ist ausschließlich in der zweiten und dritten Oktave in hoher Lage angesiedelt, und damit er klanglich auch tatsächlich für sich alleine steht, hat Ravel sogar das Pedal rechtzeitig aufgehoben. Klingt demgegenüber der vollgriffige Schlussakkord mit übergebundener Bassquinte aus Orensteins Erstausgabe nicht pianistisch eindrucksvoller?
Vielleicht. Aber die Sérénade ist eben kein vom Klavier aus gedachtes Stück, sondern ein pianistisches Gitarrenständchen, und als solches endet es im Henle-Urtext mit Ravels originalem, lichtem Flageolett-Akkord – sogar mit drei Fingern auf der untersten Note.