Arcis Saxophon Quartett (© arcisvisuals)

Vor einiger Zeit überraschte uns ein junges Münchner Ensemble mit einer außergewöhnlichen Anfrage: das Arcis      Saxophon Quartett, vielfach preisgekrönt und auf internationalen Bühnen zuhause, schlug uns ein gemeinsames Editionsprojekt eines Repertoirestücks vor, das alle Saxophonisten weltweit seit Jahrzehnten notgedrungen aus einer einzigen fehlerhaften alten Ausgabe spielen müssen. Ein Fall für Henle!🕵️‍♂️

Nach intensiven Archivrecherchen und Quellenvergleichen ist nun dieses Jahr das Ergebnis dieser aufwendigen Editionsarbeit bei uns erschienen: die erste Urtext-Ausgabe des 1932 von Alexander Glasunow komponierten Saxophonquartetts B-dur op. 109 (HN 1046), gewissermaßen das Gründungsdokument dieses Genres und bis heute eine der wichtigsten Kompositionen für klassisches Saxophon überhaupt.

So ungewöhnlich das Instrument Saxophon im Kontext des üblichen Henle-Repertoires scheinen mag: mit Erwin Schulhoffs Hot-Sonate (HN 1369) sowie Claude Debussys Rhapsodie (HN 989) haben wir bereits seit längerem zwei bedeutende Kompositionen für Altsaxophon in unserem Katalog. Ein veritables Saxophonquartett (d. h. besetzt mit Sopran-, Alt-, Tenor- und Baritonsaxophon) war zwar auch für uns ein außergewöhnliches Projekt, aber kein Problem angesichts der großen Expertise unserer Herausgeber vom Arcis Saxophon Quartett.

Dank der ausgezeichneten Kontakte der vier Musiker in die weitverzweigte Saxophon-Szene konnten wir gemeinsam eine Vielzahl von Quellen zu Glasunows Komposition weltweit lokalisieren und studieren, was unbedingt notwendig war, um die Unzulänglichkeiten der bisher einzigen verfügbaren Ausgabe zu beseitigen: dem Erstdruck von 1959, der also erst nach Glasunows Tod und ohne seine Kontrolle entstand.

Nach intensiver gemeinsamer Recherche fanden sich beispielsweise in einem Glasunow-Nachlass im Staatlichen Museum für Theater und Musik in Sankt Petersburg zahlreiche handschriftliche Dokumente, etwa die persönlichen Skizzenhefte Glasunows, die eine vollständige erste Niederschrift des Werks in Particellform (ähnlich einem Klavierauszug) enthalten – eine äußerst wichtige, da die einzige erhaltene autographe Quelle. Denn das endgültige Partiturautograph konnten wir auch trotz intensiver Suche in zahlreichen Archiven und Nachlässen leider nicht auffinden; einzige Spur davon bislang ist die fotokopierte Titelseite im Glasunow-Archiv München:

Ein sehr interessantes Detail dieser Seite: Glasunow selbst vergab für sein Saxophonquartett die Opuszahl 109; sie ist also authentisch, auch wenn die Erstausgabe erst 23 Jahre nach Glasunows Tod erschien. (Im Unterschied zum zwei Jahre später komponierten Saxophonkonzert Glasunows, das postum fälschlicherweise ebenfalls die Opuszahl 109 erhielt, da der Verlag nichts von dem noch unveröffentlichten Quartett wusste…)

Eine andere handschriftliche Partitur in Sankt Petersburg, die bislang von manchen Forschern als das Autograph angesehen wurde, konnten wir hingegen als bloße Abschrift von Glasunows Witwe Olga identifizieren; dennoch stellt dieses Manuskript eine wichtige weitere Quelle dar.

Über persönliche Kontakte konnte Claus Hierluksch, ‚Primarius‘ des Arcis Saxophon Quartetts, Fotos einer weiteren äußerst interessanten Handschrift erlangen: eine Partiturabschrift von der Hand des legendären Saxophonisten Sigurd Raschèr, der Glasunow 1933 besuchte und sich direkt vom Autograph eine Abschrift anfertigen durfte (es war die Zeit vor Fotokopierern und Handyfotos…).

Diese beiden Partituren stellen somit gewissermaßen Momentaufnahmen des verschollenen Autographs zu verschiedenen Zeitpunkten dar: Raschèrs Abschrift dokumentiert noch ein früheres Stadium, das sich in spannenden Details von der heute bekannten Fassung unterscheidet. So lauten die Schlusstakte des Scherzos im 2. Satz in der Abschrift Olga Glasunowas und der Erstausgabe wie folgt:

Saxophonquartett op. 109, 2. Satz, T. 433–435,
Endfassung

Die Abschrift Raschèrs zeigt, dass Glasunow das Scherzo ursprünglich aber mit einem witzigen Terz- bzw. Quart-Triller beschließen wollte:

Saxophonquartett op. 109, 2. Satz, T. 433–435,
Urfassung

Für Claus Hierluksch ist ganz offensichtlich, dass diese Änderung auf die Auftraggeber zurückgeht, die das Werk 1933 auch uraufführten: das Quatuor de Saxophones de la Garde Républicaine. Dieses legendäre Saxophonquartett bevorzugte einen eleganten, klassischen Spielstil ohne „modernistische“ Effekte, auch Vibrato setzten sie nur sehr sparsam und gezielt ein. Den ursprünglichen Trillerschluss müssen sie sicherlich als zu „ordinär“ empfunden haben.

Der französische Saxophonist Marcel Mule (links außen)
mit dem von ihm 1928 gegründeten
Quatuor de Saxophones de la Garde Républicaine

Neben den musikalischen Quellen konnten erstmals auch zahlreiche Briefe des Ensembles an Glasunow aus den Jahren 1932­–34 ausgewertet werden, die genauere Einblicke in die Werkentstehung erlauben. So berichtet Georges Chauvet, der Baritonsaxophonist und Organisator des Ensembles, in seinem Brief an Glasunow vom 16. Dezember 1932, von der allerersten Leseprobe des neuen Werks:

Mon cher Maître,

nous avons eu le plaisir de faire une première lecture de votre quatuor et nous l’avons trouvé fort joli. Nous désirons le revoir encore une autre fois avant de vous en donner une audition, car il n’est par facile, et nous préférons vous faire attendre encore quelques jours afin que cette audition ne vous cause pas de déception pour l’exécution.

Lieber Maestro,

wir hatten das Vergnügen eines ersten Durchspiels Ihres Quartetts, und wir fanden es ausgesprochen hübsch. Wir würden es gern ein weiteres Mal proben, bevor wir es Ihnen vorspielen, denn es ist nicht leicht, und wir würden Sie lieber gern noch einige Tage um Geduld bitten, damit dieses Vorspiel Ihnen in unserer Darbietung keine Enttäuschung bereitet.

Dieses erste Vorspiel fand wohl am 18. Dezember 1932 in der Pariser Salle Gaveau statt, denn im nächsten Brief Chauvets vom 30. Dezember ist bereits davon die Rede, und er bittet Glasunow um eine ehrliche Kritik des Gehörten:

Vous nous feriez bien plaisir en nous donnant votre sentiment sur ce que vous avez entendu, en ajoutant une critique sur les points que vous jugerez, compte tenu évidemment du travail qui reste à réaliser. Ce quatuor nous plaît infiniment, et il sera la plus belle œuvre de notre répertoire.

Sie würden uns einen großen Gefallen tun, wenn Sie uns Ihre ehrliche Meinung über das Vorspiel mitteilten, zusammen mit einer Kritik der Ihnen wichtigen Punkte, natürlich unter Berücksichtigung der noch nötigen Probenarbeit. Dieses Quartett gefällt uns ungemein, und es wird das schönste Werk unseres Repertoires werden.

Diese sehr vorsichtigen Kommentare Chauvets zur Interpretation waren offenbar unnötig, denn Glasunow war von der Interpretation des Quatuor Mule restlos begeistert, wie aus einem  Brief an seinen Freund Jan Wolfman vom 11. April 1933 hervorgeht: „Sie haben ausgezeichnet gespielt, mit sonorem und originellen Klang.“

Auch wenn Marcel Mule und sein Ensemble das ihnen gewidmete Werk häufig und auch im Radio aufführten, wurde das Saxophonquartett op. 109 zu Lebzeiten Glasunows leider nie im Druck veröffentlicht. Die Erstausgabe von 1959, die der Komponist natürlich nicht mehr korrekturlesen und überprüfen konnte, krankt an zahllosen Ungenauigkeiten, vor allem hinsichtlich Phrasierung, und auch etliche falsche Töne und Rhythmen finden sich, wie etwa hier im Schlusssatz, wo das Altsaxophon seinen ostinaten Rhythmus beibehalten muss und nicht an das Sopransaxophon angeglichen werden darf:

Saxophonquartett op. 109, 3. Satz, T. 281–283, Erstausgabe Bonn 1959

Saxophonquartett op. 109, 3. Satz, T. 281–283, Urtext-Ausgabe G. Henle 2025

Oder dieses kuriose Versehen, das aus Glasunows marcato ein musikalisch unsinniges morendo macht:

Saxophonquartett op. 109, 1. Satz, T. 185–186, Erstausgabe Bonn 1959

Saxophonquartett op. 109, 1. Satz, T. 185–186, Urtext-Ausgabe G. Henle 2025

All diese Mängel sind nun mithilfe der genannten Quellen beseitigt, und der Saxophonwelt steht endlich eine verlässliche Neuausgabe eines der wichtigsten Repertoirewerke zur Verfügung – dank der Initiative und dem Enthusiasmus des Arcis Saxophon Quartetts!

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Eine Antwort auf »Arcis meets Alexander – Glasunows Saxophonquartett endlich in einer verlässlichen Urtextausgabe«

  1. Die Arbeit an Glasunows Saxophonquartett begann für mich bereits während des Studiums mit einer einfachen Einsicht: Ohne verlässliche Quellen kein verlässlicher Musiziertext. In der European Chamber Music Academy, wo die besten Kammermusikensembles und Dozenten Europas zusammenkommen, war diese Haltung selbstverständlich. Dort haben wir gelernt, Noten nicht nur zu spielen, sondern zu prüfen. Für Glasunow gab es aber lange Zeit nur eine einzige Ausgabe voller Fehler, mal offensichtlich, mal weniger offensichtlich. Also haben wir gesucht, verglichen und weitergesucht. Wo könnten wir ein Autograph von Glasunow finden? Und dann haben wir sehr schnell den wohl besten Partner mit eingeschaltet, den man sich wünschen kann: den Henle-Verlag in Zusammenarbeit mit dem herausragenden Lektor Dominik Rahmer, dem wir viel zu verdanken haben.

    Eine frühe Spur führte an einen für uns besonderen Ort: die Arcisstraße in München. Hier haben wir uns als Quartett an der Hochschule für Musik und Theater München gefunden und sie war gleichzeitig unsere Namensgeberin. Und wie es der Zufall so will, lebte nur wenige Schritte entfernt Glasunows Tochter. Ihr Nachlass wanderte aus diesem Münchner Archiv später nach Sankt Petersburg, mitsamt vielen Originaldokumenten. Es gibt Hinweise auf eine Fassung, die wohl die letztgültige war. Von ihr existieren im ehemals Münchner Archiv Fotokopien der ersten Seiten, das Original ist aber bis heute nicht aufgetaucht. Und wir haben wirklich in allen Ecken und Winkeln der Welt gesucht. Wir hoffen, dass es eines Tages wieder ans Licht kommt.

    Entscheidend war jedoch: Aus allen erreichbaren Quellen ließ sich der Notentext zuverlässig rekonstruieren. Es war echte Detektivarbeit. Note für Note, Quelle für Quelle, immer mit der Frage: Was hat Glasunow tatsächlich intendiert? Wer hat was wo geändert? Diese Sorgfalt mündet nun in einer Henle Ausgabe, die den Anspruch Urtext ernst nimmt und zugleich in einem ästhetisch herausragenden Notenbild erscheint.

    Dass wir diese Neuausgabe mit Henle realisieren durften, macht mich stolz. Es ist bewegend, das Ergebnis in Händen zu halten und zu wissen, dass künftige Generationen mit diesem Material arbeiten werden. Wenn sie das Quartett aufschlagen und auf dem legendären Henle-Blau unseren Namen lesen, ist das für uns ein Lebenstraum, denn wir können der Musikwelt etwas Bleibendes hinterlassen. Und die Arbeit mit Henle ist nicht nur eine Ehre für uns, sondern die Arbeit von Henle ist auch ein Versprechen an die Musik. Nun endlich auch für das historisch wohl wichtigste Werk unseres Genres.

    Claus Hierluksch, Arcis Saxophon Quartett

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