Frédéric Chopin (1810–1849)

Die letzte Klaviersonate op. 58 von Frédéric Chopin ist voller beglückender musikalischer Momente. Strenge Musik-Analysten bemängeln bisweilen ihre etwas wuchernde Form, aber für mich persönlich ist die h-moll-Sonate ganz große Klaviermusik. Leider auch sehr schwere Klaviermusik: Die technischen Anforderungen sind immens, und als Hobbypianist kommt man hier schnell an seine Grenzen (deswegen hier eine Aufnahme von Dinu Lipatti). Schwer ist die Sonate aber auch aus editorischer Perspektive, und diese Einsicht traf mich als Herausgeber der neuen Urtext-Ausgabe (HN 871) etwas unerwartet.

Lange habe ich über dieser Edition gebrütet und wusste nicht recht, wie man die verzwickte Überlieferungssituation in eine Urtextform gießen kann. Die Quellenlage ist in den Worttexten (Vorwort, Bemerkungen) zur neuen Ausgabe ausführlich dargestellt, diese Details möchte ich hier nicht duplizieren. Zur unbefriedigenden Ausgangslage dennoch ein paar Eckpunkte.

Wie in späten Jahren üblich, schrieb Chopin seine Sonate in drei Autographen nieder, jedes war als Vorlage für die drei Erstausgaben in Frankreich, Deutschland und England gedacht. Damit schuf Chopin – vermutlich unbewusst – drei Fassungen dieser Sonate. Von diesen drei Autographen ist nur dasjenige erhalten, das als Vorlage für die Erstausgabe bei Breitkopf & Härtel diente – naturgemäß eine zentrale Quelle, zumal das Manuskript durch große Sorgfalt in der Ausführung besticht.

Und die beiden anderen Fassungen? Diejenige der englischen Erstausgabe ist äußerst schlecht überliefert. Das Autograph fehlt, der Druck ist fehlerhaft und wurde von Chopin nie kontrolliert. Diejenige der französischen Erstausgabe ist hingegen viel interessanter. Obwohl wir das zugrundeliegende Autograph nicht kennen, wissen wir von einem ersten Druck, den Chopin minutiös korrigiert haben muss, denn eine zweite Auflage weist eine Fülle von Änderungen, Präzisierungen und Korrekturen auf. Schaut man sich den Text und die beiden Druckstadien genauer an, so kann man den Schluss ziehen, dass das verschollene Autograph vermutlich flüchtig, ja unsauber notiert war und außerdem viele Leerstellen in der genaueren Bezeichnung von Artikulation/Dynamik/Pedalisierung aufwies. Chopin musste also im Druck eingreifen, um die Textqualität auf ein höheres Niveau zu heben.

Für die Änderungen zwischen den beiden Auflagen hier ein paar Beispiele.

Ergänzungen von Arpeggio-Zeichen:

1. Satz, T. 4,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage

Veränderung der Dynamik:

1. Satz, T. 56,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage

Ergänzung von Fingersatz, um die Handaufteilung deutlich zu machen:

1. Satz, T. 69,
links: französische Erstausgabe, 1. Auflage;
rechts: französische Erstausgabe, 2. Auflage

Schließlich die Verdeutlichung der Bögen für die linke Hand zu Beginn des 3. Satzes (Chopin wollte offenbar sicherstellen, dass es sich um Legato- und nicht etwa Haltebögen handelt).

3. Satz, T. 5-8, französische Erstausgabe, 1. Auflage

3. Satz, T. 5-8, französische Erstausgabe, 2. Auflage

Diese Beispiele sind nur exemplarisch. Vergleicht man die beiden Ausgaben, ist die Fülle an Unterschieden, Präzisierungen, Korrekturen, Ergänzungen unermesslich. Es besteht kein Zweifel: Dieser Druck ist von Chopin selbst korrigiert worden, und die 2. Auflage ist autorisiert. Damit nicht genug: Chopin verwendete diesen auskorrigierten Druck in seinem Klavierunterricht, wie zwei erhaltene Exemplare beweisen, in denen Chopin erneut handschriftliche Eintragungen vornahm. All diese Ergänzungen und Korrekturen liegen zeitlich nach der Niederschrift des erhaltenen Autographs.

Fassen wir noch einmal zusammen: Es gibt drei Fassungen der h-moll-Sonate Chopins, nämlich

1) eine schlecht überlieferte „englische“ Fassung,

2) eine „deutsche“ Fassung, überliefert in einem reinschriftlichen Autograph,

3) eine „französische“ Fassung, die durch einen autorisierten Druck abgesichert ist.

Was ist nun die Aufgabe eines Urtext-Herausgebers? Nach unserem Verständnis müssen wir eine „Fassung letzter Hand“ finden, einen Text, der den „letzten Willen“ des Komponisten widerspiegelt. Für welche Fassung trifft das im Fall der Chopin-Sonate zu?

Die englische Ausgabe können wir, wie oben bereits gesagt, ausschließen. Ein besserer Kandidat ist zweifellos die französische Fassung, denn wir wissen, dass Chopins letzte Korrekturen in diesen Text eingeflossen sind. Allerdings wissen wir auch, dass das verschollene, zugrundeliegende Autograph einen unvollkommenen Text aufwies, der noch nicht vollständig ausgearbeitet war. Diese „frühen“ Lesarten haben sich leider auch in die französische Erstausgabe vererbt – wir finden dort also eine Mischung aus frühen und späten Lesarten. Die deutsche Fassung hat demgegenüber den großen Vorteil, auf einem nahezu perfekten Autograph zu basieren. Diese Fassung ist äußerst konsistent, bestens verbürgt – aber die letzten Korrekturen Chopins fehlen hier. Andererseits ist die deutsche Fassung gleichzeitig die am stärksten verbreitete. Die meistens Ausgaben aus dem 19. und 20. Jahrhundert basieren hauptsächlich auf dieser Fassung, ihre Lesarten sind in der ganzen Welt bis heute verbreitet.

Sie ahnen, worauf es hinausläuft: Die zwei zentralen Fassungen der Sonate, die „deutsche“ und die „französische“ müssen irgendwie dokumentiert werden, denn beide Fassungen sind gleichermaßen autorisiert – und beide Fassungen haben gleichermaßen Nachteile.

Einen hartgesottenen Chopin-Herausgeber kann das noch nicht schockieren, denn Parallel-Fassungen gibt es in der Chopin-Philologie immer wieder. Normalerweise spielen sich deren Abweichungen jedoch in einem so kleinen Rahmen ab, dass man als Herausgeber einen Grundtext bieten kann, der die punktuellen Unterschiede in Fußnoten oder Ossias dokumentiert. Bei der h-moll-Sonaten funktioniert das nicht mehr; zu zahlreich und fundamental sind die Unterschiede der Fassungen und zu sehr läuft man Gefahr, die Notentexte zu vermischen und damit eine „Meta-Fassung“ zu erstellen, die letztlich in keiner Quelle überliefert ist.

Aus diesen Gründen habe ich in der neuen Urtextausgabe erstmals den Schritt gewagt, zwei Fassungen zu veröffentlichen. Im Haupttext ediere ich die Sonate gemäß der revidierten französischen Erstausgabe, fraglos die Fassung letzter Hand. Überall, wo die Mitteilung von Varianten für den Pianisten von Interesse ist, gibt es Fußnoten, die auf Parallel-Überlieferungen hinweisen. Um aber der „deutschen“ Fassung gemäß Autograph auch zu ihrem Recht zu verhelfen, habe ich im Anhang die gesamte Sonate erneut ediert, nun streng nach Autograph. Diese Quellen-Edition weist nicht auf Varianten hin, punktuelle Fehler und Unklarheiten werden natürlich auch hier korrigiert bzw. diskutiert. Bei diesem Vorgehen war mir daran gelegen, diese nicht minder wichtige Fassung im Kontext aufführbar zu machen.

Zum Schluss eines der prominentesten Beispiele für die Unterschiede zwischen den beiden Fassungen. In T. 74/75 des 1. Satzes gibt es eine Überleitung in die Schlussgruppe der Exposition, die in allen modernen Ausgaben dem Autograph folgt:

3. Satz, T. 74–75, Autograph der deutschen Fassung

In der französischen Erstausgabe steht allerdings:

3. Satz, T. 74–75, französische Erstausgabe, 2. Auflage

Vieles deutet darauf hin, dass diese zweite Lesart eine frühere Fassung repräsentiert, sie steht übrigens auch in der englischen Erstausgabe. Vermutlich glich Chopin bei der Niederschrift des „deutschen“ Autographs die Passage an die Fassung der Reprise an. Viele Editoren halten daher die „französische“ Fassung für unterlegen, ja für schlechter. Es besteht aber überhaupt kein Zweifel, dass Chopin diese Fassung in seiner gründlichen Korrektur unverändert stehen ließ, ja, dass er sie auch in seinem Unterricht von seinen Schülern spielen ließ. Dürfen wir bei dieser Ausgangslage die französische Fassung abwerten und sie einfach durch die gewohntere ersetzen?

In einem Interview mit Dr. Wolf-Dieter Seiffert zum Thema „Revisionen“ haben wir dieses Textproblem besprochen, und hier hören Sie auch, wie die beiden Fassungen klingen:

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4 Antworten auf »Ein schwerer Fall: Chopins h-moll-Sonate op. 58 im Urtext«

  1. Prof. i. R. Dr. Hartmuth Kinzler sagt:

    Lieber Herr Müllemann,

    Ihre neueste Doppelpublikation von Chopins op. 58 finde ich äußerst lobenswert – hoffentlich ist sie auch unter verlegerisch-kaufmännischen Gesichtspunkten erfolgreich! Nur eine ganz kleine Anmerkung: Im dritten Satz hat sich der fehlende Hals beim punktieren Achtel auf der dritten Zählzeit von Takt 62 aus der Zimmermannschen Ausgabe (nach dortiger Zählung der Takt 61) in die Version nach dem Autograph “hinübergerettet”, die erste Version Ihrer Ausgabe hat ihn ja ergänzt.

    Überhaupt ist die Notationsweise des Fingerpedalsatzes eine recht verzwickte Angelegenheit. Im Autograph fehlen ja beispielweise bei den “Hohlköpfen” mit den Balken teilweise die Doppelbehalsungen (etwa Takt 59 f.). Manche Aspekte des Fingerpedals im Mittelteil lassen vermuten, daß etwa die Doppelbehalsung des jeweils 4. und 5. Achtels im Takt nahelegen sollen, daß die damit jeweils induzierte Dauer eines Viertels sich einmal – beim 4. Triolenachtel – auf eine reguläre Achtel sich beziehen (also 3 Triolenachtel umfaßt), wohingegen der Hals des fünften Achtels sich auf die Triolenachtel bezieht, wodurch dieser Ton bereits mit Beginn der zweiten Takthälfte enden soll. (Daß Sie die “fehlende” Doppelbehalsung in den Takten 59 und 60 ergänzt haben, ohne die Ergänzung anzuzeigen, ist legitim.) Weiteres Beispiel: das 5. (Triolen)Achtel in Takt 30, das kleine h, hat keine Doppelbehalsung, zumindest keine nach oben wie in der Umgebung. Bedeutsam? Nachlässigkeit? Schreibungenauigkeit? Fragen über Fragen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ihr
    Hartmuth Kinzler

    (Eine persönlich Mitteilung: Gestern habe ich meine über 40jährige Lehrtätigkeit an Universitäten endgültig beendet mit einem Seminar über den späten Chopin – daher meine Befassung mit der Sonate.)

    • Lieber Herr Kinzler,
      haben Sie vielen Dank für Ihre Nachricht und für Ihre Anmerkungen. Wir kennen uns zwar nicht persönlich, aber Ihr Name ist mir natürlich geläufig – für Ihren Ruhestand wünsche ich Ihnen alles Gute und hoffe, dass Chopin Sie auch weiterhin begleiten wird!
      Die Sache mit dem fehlenden Notenhals im III. Satz habe ich gleich in mein Redaktionsexemplar eingetragen. Das wird in der nächsten Auflage behoben, besten Dank für diesen Korrekturhinweis!
      Auch für Ihre subtilen und für mich sehr gut nachvollziehbaren Beobachtungen zu den zusätzlichen Hälsen im III. Satz bin ich dankbar! Ich stimme Ihnen zu, die Dauern der “Viertelhälse” scheinen sich auf reguläre Achtel und Triolenachtel zu beziehen. Diese kleine Unschärfe in der Notation hat der Improvisator Chopin offenbar in Kauf genommen und es der Nachwelt überlassen, hier eine musikalisch plausible Umsetzung aufzuspüren. Und in der Tat habe ich in meiner Edition hier und da einen Hals ergänzt, wenn mir sein Fehlen im Kontext unlogisch vorkam. Es findet sich darauf ein kleiner Hinweis im Kritischen Bericht, zum Anhang (S. 89). Sie haben natürlich Recht: bei solchen Glättungen besteht immer die Gefahr, die Subtilität des Notats zu vergröbern und Information zu unterschlagen. Insofern auch herzlichen Dank für diesen Hinweis!
      Mit den besten Grüßen,
      Ihr Norbert Müllemann

  2. Lieber Herr Müllemann,

    Auch auf die Gefahr hin, als – sit venia verbo – Tüpfelesscheißer dazustehen, möchte ich doch anmerken, daß im ersten Satz der H-Moll-Sonate in Takt 145 der Punkt hinter dem kleinen g entfernt werden sollte. Dieses g, die kleine None über dem Akkordgrundton, wird im vierten Achtel dieses Taktes regelgerecht in die Oktave, das fis, aufgelöst. (Der Bindebogen, den die alte polnische Nationalausgabe hier schreibt, ist als Herausgeber-Ergänzung durchaus zu rechtfertigen; die neue polnische Wydanie narodowe tut dies im übrigen nicht mehr.) Diese Auflösung wird durch den zusätzlichen Punkt, der leider auch schon in der französischen und englischen Erstausgabe sowie der Henle-Zimmermann-Ausgabe vorkommt, konterkariert. Hauptargumente gegen diesen Punkt sind zum einen die autographe Stichvorlage zur deutschen Erstausgabe und diese selbst, die in diesem „Punkt“ recht eindeutig ist, und zum anderen auch die Parallelstelle, die sich aber in mehrerlei Weise von der Version der Reprise unterschiedet.

    Was den Vergleich der Parallelstellen angeht, sind die bedeutsamsten Unterschiede der beiden Formstellen neben den Differenzen im Hinblick auf die Doppelbehalsungen, die eine eigene umfängliche Diskussion der Satzstruktur – Stichwort: Undezimenakkord – erforderlich machen würde, die unterschiedlichen Tonhöhen (und natürlich auch die Verkürzung dieser Stelle um einen Takt in der Reprise): Dem kleinen b in der rechten Hand von Takt 35 bis 37 entspricht in Takt 144 f. kein kleines g – Chopin schreibt hier zweimal ein kleines ais.

    Es gäbe noch weiteres zu bemerken. Ob nicht z. B. in Takt 37 das doppelt behalste eingestrichene d in Analogie zu den vorherigen Takten (in Klammern) einen Punkt zusätzlich erhalten sollte, den m. E. Chopin schlicht vergessen haben dürfte. (Ekier ergänzt ihn wie selbstverständlich, allerdings ohne diese Herausgeberergänzung als solche kenntlich zu machen.) Überhaupt ist Chopin in Sachen exakter Notierung von Tondauern beim Liegenlassen doppelt behalster Töne (dem sog. Fingerpedal ) ausgesprochen nachlässig bis vorsätzlich „mathematisch“ inexakt. (Man denke auch an den Mittelteil des langsamen Satz der Sonate.) Anderer „Punkt“ : ist im Autograph die Doppelhalsung des ersten kleinen h in Takt 144 nicht möglicherweise Folge einer nachlässigen Niederschrift? Wurde der Hals vom Sechzehntelbalken zur Note nicht zufällig versehentlich über die Note hinaus nach unten verlängert? Hier macht sich der Verlust der Stichvorlagen für die beiden anderen Erstausgaben schmerzlich bemerkbar.

    Was ich nicht ganz verstehe ist, daß die Henle-Ausgaben bei den Takten 143 ff. im oberen System in den Baßschlüssel wechselt und so auf die durchaus verständliche tonräumliche Verteilung der Stimmen auf beide Systeme verzichtet. Sowohl das erhaltene Autograph als auch alle drei Erstausgaben nehmen diesen Wechsel ja nicht vor. Ich weiß nicht ab wann genau diese „Umnotierung“ erstmals erfolgt ist, die alte polnische Ausgabe tut dies – die neue von Ekier nicht. Für eine Ausgabe, die sich im Anhang als Fassung nach dem Autograph tituliert, hätte ich in diesem Punkt eine Angleichung ans autographe Notenbild erwartet. Ein Nebenaspekt dieser unterschiedlichen Notenbilder ist, daß die tonräumliche Version nur wenig Platz hat für den Bindebogen vom kleine g zum kleinen fis und daher auch im Autograph wohl auch von Chopin übersehen bzw. vergessen wurde.

    Ich habe übrigens auch im Zuge der pianistischen Erarbeitung der Sonate lange mit mir gerungen, ob Chopin möglicherweise beim eingestrichenen cis in Takt 37 ein Fähnchen vergessen hat. Mit einem Achtel-cis würde die Begleitung in allen Stimmen genau in der Taktmitte enden. Paderewski bzw. genauer: der Herausgeber der Sonate in der alten Nationalausgabe verkürzt diese Note sogar zum Sechzehntel! Dies hängt aber wohl damit zusammen, daß die Paderewski-Ausgabe jene zusätzliche latente Stimme, die durch die Doppelbehalsungen entsteht, tatsächlich als eigene Stimme durch Bebalkung hervorhebt. Das eingestrichenen cis in Takt 35 und 36 ist dort nur deswegen ein Sechzehntel, weil die Fortsetzung dieser Stimme durch das eingestrichene e im Abstand eines Sechzehntels erfolgt. Dieser Grund entfiele in Takt 37. Klanglich überzeugend ist für mich aber das Viertel-cis!

    Auch hätte ich als Herausgeber – so wie Ekier es tat – in Takt 37 das dortige d eins mit einem Punkt (natürlich in Klammern, die bei Ekier nicht steht) versehen, denn es handelt sich nach meiner Auffassung um zweifellos eine Chopinsche fehlerhafte Auslassung! (Daß dies Chopin bei der Niederschrift unterlief, könnte ich mir so vorstellen: In Takt 37 rückt er die Doppelbehalsung vom eingestrichenen e, wie sie in Takt 35 und 36 zu finden ist, um ein Sechzehntel nach vorn und wird so zum eingestrichenen cis. Mit einem Fehlschluß wollte Chopin daher wohl das d um eine Sechzehntel verkürzen, d. h. ihm den Punkt nicht gönnen. Dabei bedachte er vermutlich nicht, daß der d-Punkt ja dazu da war, seine Dauer bis zum Eintritt des cis zu verlängern, was ja allerdings auch bei der vorverlegten Doppelbehalsung weiterhin erforderlich wäre. Aber das ist nur Spekulation!)

    Ich seh’ schon, ich muß dringend einen Schlußpunkt setzen. Um das Ganze noch auf den Punkt zu bringen: Der Takt 145 sollte einen Punktabzug bekommen.

    • Lieber Herr Kinzler,

      besten Dank für diese ausführliche Nachricht. Sie müssen nichts befürchten, ganz im Gegenteil, ich freue mich, dass Sie mich auf diese Stellen hinweisen, denn die Diskussion dient ja der Verbesserung des Notentextes – und Sie sind mir in der Tat auch mit mindestens einem Fehler auf die Schliche gekommen. Vielen Dank dafür!

      T. 145: Der Punktabzug wird gewährt. Ich gebe ganz offen zu, dass ich diesen Punkt im Eifer des Gefechtes übersehen habe, das ist ärgerlich! In der Edition nach Autograph muss er fraglos weg, und in der Edition nach französischer Erstausgabe habe ich ihn nun auch getilgt, mit Kommentar im Kritischen Bericht.

      T. 37: Den Punkt zum d1 würde ich in der autographen Fassung nicht ergänzen, er gehört sicher hin, da stimme ich Ihnen völlig zu, aber ich bin ja insgesamt in der Edition nach Autograph vorsichtiger und lasse Inkonsistenzen stehen, um diese “Quellenedition” von der Edition in Haupttext zu unterscheiden

      T. 144: Doppelbehalsung des kleinen h. Ja, das könnte im Autograph so passiert sein, wie Sie es beschreiben, Chopin zieht ja Hälse oft länger durch. Dennoch, auch hier würde ich in den Notentext nicht eingreifen.

      143 ff.: Umschlüsselung: Das ist sicher “Geschmacksfrage”. Ich finde die Notation im Autograph und auch besonders in den Erstausgaben höchst unübersichtlich, gerade wegen der vielen Hälse/Punkte/etc. Bei der Umschlüsselung geht das räumliche Gefühl verloren, da gebe ich Ihnen Recht. Ich finde sie dennoch praktischer. Und in der Edition nach Autograph würden wir solch orthographischen Details auch durchaus anpassen, auch im Rahmen einer “Quellenedition”.

      Nochmals ganz herzlichen Dank für diese Hinweise auf die Subtilitäten in Chopins Notation. Ich habe Ihre Gedanken als höchst inspirierend empfunden!

      Mit herzlichen Grüßen
      Ihr Norbert Müllemann

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