Ju­bi­lä­en gro­ßer Kom­po­nis­ten wer­fen lange Schat­ten vor­aus. Das gilt nicht nur für die Ton­trä­ger­in­dus­trie, wenn sich man­che En­sem­bles über Jahr­zehn­te be­mü­hen, um zu einem Haydn- oder Bach-Ju­bi­lä­um die ge­sam­ten Sin­fo­ni­en oder Kan­ta­ten per­fekt auf Ton­trä­ger zu ban­nen, son­dern auch für Mu­sik­ver­la­ge. So ist es kein Zu­fall, dass wir zum jüngst in die­sem Blog ge­wür­dig­ten Ra­vel-Jahr 2025 un­se­ren Ka­ta­log des fran­zö­si­schen Ju­bi­lars weit­ge­hend ver­voll­stän­digt haben oder pünkt­lich 2020 zu Beet­ho­vens 250. Ge­burts­tag sämt­li­che sei­ner Sin­fo­ni­en im Hen­le-Ur­text vor­la­gen. Aber das geht nicht von jetzt auf gleich. Und so be­schäf­tigt uns auch das erst lang­sam am Ho­ri­zont auf­schei­nen­de Schu­bert-Jahr 2028 durch­aus schon län­ger.

Wer mit dem Hen­le-Ka­ta­log ver­traut ist, denkt nun viel­leicht: „Schu­bert – da gibt’s doch schon alles bei Henle!“ Was na­tür­lich so nicht stimmt. Zwar ge­hört der Wie­ner Meis­ter zum ab­so­lu­ten Kern­re­per­toire des Hen­le-Ver­lags: Seine „Mo­ments mu­si­caux“ mit der HN 4 zäh­len zu den ers­ten Ti­teln, die Gün­ter Henle in sei­nem Ur­text-Ver­lag end­lich be­rei­nigt von allen spä­te­ren Zu­ta­ten prä­sen­tie­ren woll­te. Seit­dem sind zahl­lo­se Aus­ga­ben von Kla­vier- und Kam­mer­mu­sik ge­folgt, so­dass unser Schu­bert-Ka­ta­log ak­tu­ell über 70 Titel um­fasst! Gleich­wohl gibt es immer was zu tun: So haben wir im Lek­to­rat be­reits vor ei­ni­gen Jah­ren be­schlos­sen, die Kla­vier­so­na­ten noch ein­mal auf den Prüf­stand zu stel­len, die gro­ßen Lie­der­zy­klen end­lich an­zu­ge­hen und last but not least auch mal zu schau­en, wie an­de­re Kom­po­nis­ten den Ju­bi­lar ei­gent­lich ge­ehrt haben – z. B. durch Be­ar­bei­tun­gen sei­ner Werke.

Das Ständ­chen, Wie­ner Erst­aus­ga­be 1838

Lied-Tran­skrip­tio­nen von Franz Liszt be­rei­chern ja schon seit ei­ni­gen Jah­ren un­se­ren Kla­vier­ka­ta­log, da war die Zeit nun reif für Schu­bert – aus des­sen Oeu­vre Liszt als be­ken­nen­der Schu­bert-Fan im­mer­hin 55 Lie­der für Kla­vier be­ar­bei­tet hat! Zu un­se­rer gro­ßen Freu­de er­klär­te sich Ev­ge­ny Kis­sin be­reit, uns bei der Aus­wahl zu be­ra­ten und auch den Fin­gersatz bei­zu­steu­ern, als Her­aus­ge­be­rin ge­wan­nen wir die re­nom­mier­te Schu­bert-For­sche­rin An­drea Lind­mayr-Brandl. 2023 sind wir mit „Auf­ent­halt“ (HN 599) und „Ständ­chen“ (HN 1022) aus dem „Schwa­nen­ge­sang“ ge­star­tet, 2024 folg­ten mit „Das Wan­dern“ (HN 1051) und „Der Mül­ler und der Bach“ (HN 1052) zwei der so­ge­nann­ten „Mül­ler-Lie­der“. In die­sem Jahr fei­ern wir „Berg­fest“, denn mit dem druck­fri­schen „Wohin?“ (HN 1054) kommt in we­ni­gen Wo­chen der fünf­te von ins­ge­samt zehn ge­plan­ten Ti­teln in den Han­del.

Das Ständ­chen, Lon­do­ner Erst­aus­ga­be 1838

Als Lek­to­rin der Reihe bin ich bei die­sem Pro­jekt nur für die Quel­len­be­schaf­fung zu­stän­dig, die reine Edi­ti­ons­ar­beit wird ja ex­tern er­le­digt – aber die­ses „nur“ ist bei Liszt aus meh­re­ren Grün­den mit Vor­sicht zu ge­nie­ßen. Mal eben „Au­to­graph und Erst­aus­ga­be be­sor­gen und dann geht’s los“ ist da nicht! Das liegt daran, dass ein mo­der­nes wis­sen­schaft­li­ches Werk­ver­zeich­nis der Kla­vier­wer­ke fehlt und auch Liszts weit­läu­fi­ge Kor­re­spon­denz bis heute nicht voll­stän­dig er­schlos­sen ist. Da hel­fen nur gute Kon­tak­te in die Liszt-For­schung – und viel Ge­duld bei der Re­cher­che.

Denn ge­ra­de die Lied-Be­ar­bei­tun­gen in Liszts Oeu­vre sind hier eine be­son­de­re Her­aus­for­de­rung. Die bei In­ter­pre­ten wie Pu­bli­kum be­lieb­ten Stü­cke ver­brei­te­ten sich be­reits zu Liszts Leb­zei­ten mit ge­ra­de­zu atem­be­rau­ben­der Ge­schwin­dig­keit in un­ter­schied­lichs­ten Druck­aus­ga­ben in ganz Eu­ro­pa. Au­to­gra­phe der kur­zen, oft nur we­ni­ge Sei­ten lan­gen Stü­cke haben sich häu­fig nicht er­hal­ten, Druck­aus­ga­ben dafür umso mehr.

Das Ständ­chen, Mai­län­der Erst­aus­ga­be 1838

Be­lieb­te Werke wie das „Ständ­chen“ er­schie­nen nicht nur par­al­lel in ver­schie­de­nen Län­dern, son­dern auch in so hohen Auf­la­gen, dass die Ver­le­ger den­sel­ben No­ten­text mit­un­ter mehr­mals nach­s­te­chen muss­ten, weil die ori­gi­na­len Stich­plat­ten von zahl­rei­chen Ab­zü­gen ab­ge­nutzt waren. Aufs Kla­vier über­tra­gen konn­ten Schu­berts Lie­der jede Sprach­bar­rie­re über­sprin­gen und ver­brei­te­ten sich so in ganz Eu­ro­pa. Zudem wur­den die Stü­cke mal ein­zeln, mal in Hef­ten mit meh­re­ren Lied­be­ar­bei­tun­gen oder auch in Rei­hen von Ein­zel­aus­ga­ben unter immer neuen Ti­teln ver­öf­fent­licht – was die Re­cher­che in Bi­blio­theks­ka­ta­lo­gen auch nicht ge­ra­de er­leich­tert.

So hat­ten wir beim „Ständ­chen“ schon mal vier ver­schie­de­ne Erst­aus­ga­ben zu be­rück­sich­ti­gen (siehe Ab­bil­dun­gen links), die 1838 in Wien, Mai­land, Lon­don und Paris er­schie­nen und zwei in Länge und Struk­tur va­ri­ie­ren­de Ver­sio­nen des Wer­kes über­lie­fern: Wäh­rend die Wie­ner Erst­aus­ga­be von Has­lin­ger die Be­gleit­fi­gu­ra­ti­on vor Be­ginn eines neuen Ab­schnitts in T. 38 und 71 je­weils wie­der­holt, hat die Pa­ri­ser Aus­ga­be von Ri­ch­ault hier je­weils nur einen Takt. Zudem sind in der Ri­ch­ault-Aus­ga­be nach T. 74 und 78 zwei zu­sätz­li­che Be­gleit­tak­te ein­ge­scho­ben, in denen der Vort­akt noch­mal in einer aug­men­tier­ten Ver­si­on an­klingt. Diese Ver­si­on über­lie­fern auch die in Lon­don und Mai­land ver­öf­fent­lich­ten Dru­cke.

Pa­ri­ser Erst­aus­ga­be, Ri­ch­ault 1838, T. 62 ff.

Wie­ner Erst­aus­ga­be, Has­lin­ger 1838, T. 62 ff.

Dank Liszts Kor­re­spon­denz mit Ri­ch­ault und der aus­nahms­wei­se er­hal­te­nen au­to­gra­phen Stich­vor­la­ge für die Has­lin­ger-Aus­ga­be wis­sen wir, dass beide Ver­sio­nen auf eine von Liszt ge­schick­te Stich­vor­la­ge zu­rück­ge­hen. Sie waren also beide au­to­ri­siert und bie­ten in ihrem fle­xi­blen Um­gang mit den Be­gleit­struk­tu­ren ein ty­pi­sches Bei­spiel für die da­ma­li­ge Mu­si­zier­pra­xis: Ver­mut­lich hat Liszt an die­sen Stel­len auch in sei­nem Vor­trag immer wie­der etwas va­ri­iert und daher un­ter­schied­li­che Ver­sio­nen fest­ge­hal­ten. (Üb­ri­gens in bes­ter Über­ein­stim­mung mit Schu­bert, der zu man­chem Lied eben­falls un­ter­schied­li­che Ver­sio­nen des be­glei­ten­den Kla­vier­sat­zes hin­ter­ließ.)

Damit stan­den wir aber erst am An­fang der be­weg­ten Druck­ge­schich­te vom „Ständ­chen“: Be­reits 1840 brach­te es Has­lin­ger in Wien in einer neuen Aus­ga­be her­aus, dies­mal in einer Samm­lung von 28 Lied­be­ar­bei­tun­gen, die neben dem kom­plet­ten „Schwa­nen­ge­sang“ auch 12 Num­mern aus der „Win­ter­rei­se“ sowie wei­te­re Lie­der um­fass­te. Für diese Aus­ga­be hatte Liszt (ver­mut­lich auf Bit­ten des Ver­le­gers) ei­ni­ge Al­ter­na­ti­ven er­gänzt, die als „Ossia più fa­ci­le“ auch we­ni­ger vir­tuo­sen Pia­nis­tin­nen und Pia­nis­ten die Aus­füh­rung er­laub­ten. Diese drit­te Fas­sung des „Ständ­chens“ war of­fen­bar ein gro­ßer Er­folg: Auch Ri­ch­ault in Paris über­nahm diese Fas­sung und in Wien ver­kauf­te sie sich so gut, dass Has­lin­ger in kur­zer Zeit gleich meh­re­re Nach­sti­che an­fer­ti­gen las­sen muss­te. Bei un­se­rer Re­cher­che nach ver­schie­de­nen Ex­em­pla­ren die­ser Aus­ga­be von 1840 fan­den wir al­lein in den Be­stän­den der Un­ga­ri­schen Na­tio­nal­bi­blio­thek gleich vier Ex­em­pla­re mit un­ver­än­der­tem Titel und Preis, die sich bei nä­he­rer Be­trach­tung als Neusti­che mit je­weils leicht va­ri­ie­ren­der Ge­stal­tung her­aus­stell­ten!

Das Ständ­chen, Has­lin­ger 1840, links: Ex­em­plar aus H-Bn Mus. pr. 13.294/4; rechts: H-Bn ZR 1.413

links: H-Bn Z 28.063/2; rechts: H-Bn Mus. pr. 13.294/5

Als Ro­bert Li­enau 1875 den Has­lin­ger-Ver­lag über­nahm, fand er die Stich­plat­ten der „klei­nen Schu­bert-Über­tra­gun­gen recht schlecht in Druck und Stich“. Für die ge­plan­te Neu­aus­ga­be wand­te er sich sogar di­rekt an Liszt und er­kun­dig­te sich bei dem „Hoch ge­ehr­ten Herrn und Meis­ter“ nach even­tu­el­len Än­de­rungs­wün­schen. Eine Er­wi­de­rung Liszts ist nicht be­kannt, aber die von Li­enau dann ex­pli­zit als „Neue Aus­ga­be“ be­zeich­ne­te Ver­öf­fent­li­chung weist im No­ten­text ei­ni­ge si­gni­fi­kan­te Ab­wei­chun­gen ge­gen­über den frü­he­ren Dru­cken auf, deren Au­to­ri­sie­rung zu­min­dest nicht aus­zu­schlie­ßen ist.

So haben wir nach Re­cher­che von im­mer­hin 22 ver­schie­de­nen Druck­ex­em­pla­ren des „Ständ­chens“ diese letz­te Aus­ga­be zu un­se­rer Haupt­quel­le ge­macht – aber auf dem Weg dahin viel über die Ver­brei­tung des Schu­bert­schen Kunst­lieds im Ge­wand der Liszt­schen Kla­vier­trans­po­si­tio­nen ge­lernt. Und Sie wun­dern sich viel­leicht nun auch gar nicht mehr, dass in un­se­ren Schu­bert-Liszt-Aus­ga­ben die Be­schrei­bung und Be­wer­tung der Quel­len in den Be­mer­kun­gen manch­mal doch über­ra­schend um­fang­reich ist…

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