Man könnte als Urtext-Herausgeber manchmal verzweifeln: Da bietet man der Musikwelt einen gesicherten Notentext, aber diejenigen, denen unsere ganze Arbeit gilt, ignorieren die neuen Erkenntnisse für ihr Spiel und für ihren Unterricht.
Ein Beispiel gefällig? Neulich hörte ich einen jungen, sehr begabten koreanischen Geiger das D-dur-Konzert KV 218 (HN 680) von Mozart spielen. Abgesehen davon, dass er auf den zumindest in der historisch-informierten Aufführungspraxis als „common sense“ geltenden Standard, als Primarius die Tuttipassagen mitzuspielen und das Orchester zu leiten, leider verzichtete, hörten wir im Detail all jene kleinen Notenfehler und subjektiven Bearbeitungsergänzungen, die letztlich auf Ferdinand Davids Erstausgabe von 1865 zurückgehen.
Nehmen wir den Einstieg der Solovioline in Takt 42. Nach wie vor spielt nicht nur unser Geiger – denn zäh halten sich die Fehler der Alten – in etwa so:
Kurzer Vorschlag und forte. Er spielte die Stelle letztlich so, wie wir es von David Oistrach kennen (an dessen Ton und Verve er freilich nicht herankam):
Bei genauer Lektüre (m)einer Urtextausgabe wird man feststellen, dass es sich aber um keine kurze, sondern um eine lange Vorschlagsnote zur ersten Note handelt, die auf den Schlag gespielt werden muss. Über die angemessene Dynamik wäre zu verhandeln. In Mozarts Autograph sieht die Stelle nämlich wie folgt aus:
Spielt man – korrekt – einen langen Vorschlag wirkt der Einstieg in hoher Lage doch gleich viel zärtlicher und nicht ganz so „hier komme ich“-auftrumpfend à la Oistrach. Und dann bemerkt man, dass die Solo-Violine keine dynamische Vorschrift aufweist: die beiden begleitenden Tuttiviolinen hingegen haben piano! Natürlich: die (auch das erste Tutti) eröffnende Stelle hat dank der Punktierung etwas Marschartiges. Das kann man sich gut mit Pauken und Trompeten vorstellen. Aber es ist eine Solo-Violine in ziemlich hoher Lage, zart begleitet im piano. Ich meine: das ist eben kein Marsch, sondern eine Art „Einspielen“ oder „Intonieren“ eines banalen D-dur-Dreiklangs, noch dazu mit sozusagen langem Auftakt auf der einzigen Note e3. Quasi Musik, die „unwichtiger“ ist als alles, was danach kommt. Also kein Grund, bereits hier solistisch aufzutrumpfen. Liebe Geiger: probiert das doch einmal etwas gemäßigter, vielleicht im mezzoforte und eher wie beiläufig gespielt. Das jedenfalls lese ich aus Mozarts Autograph heraus.
Wir sehen im Autograph übrigens exakt vor Eintritt der Solo-Violine eine Streichung Mozarts. Bei der Interpretation des Konzerts kann es nur helfen, sich zu fragen, was Mozart wohl bewogen haben könnte, diesen unbegleiteten D-dur-Dreiklangsaufschwung nachträglich (womöglich erst nach Abschluss der Niederschrift) zu tilgen. Sobald man nämlich darüber spekuliert, was mit dieser Tilgung musikalisch womöglich besser geworden ist, versteht man wieder ein bisschen mehr vom D-dur-Konzert – und von Mozart überhaupt. (Besonders weil Mozarts Handschrift des Werks kostenlos und bequem online zugänglich ist, gibt es eigentlich keine Ausrede, sie in Vorbereitung der Interpretation nicht zu studieren.)
Gabriel Banat gibt in seinem aufschlussreichen Vorwort der Faksimile-Ausgabe aller Violinkonzerte dazu einen interessanten Hinweis (The Mozart Violin Concerti: A Facsimile Edition of the Autographs. Mineola, New York 2015). Einen solchen Dreiklangsaufschwung vor (dem zweiten) Eintritt der Solovioline hatte Mozart bereits ein paar Wochen vor dem D-dur-Konzert geschrieben, nämlich im ersten Satz des G-dur-Konzerts KV 216 (= zweiter Soloabschnitt, T. 51):
Banat spekuliert, ob Mozart diese „Wiederholung“ seiner Idee möglicherweise peinlich war, weshalb er sie dann strich. Andererseits spielt die Violine bei ihrem Auftritt auch im nachfolgenden Konzert, A-dur KV 219 (T. 40), ebenfalls einen aufsteigenden Dreiklang. Alle drei Violin-Eintrittsstellen sind (bzw. im Falle von KV 218: waren) also interessanterweise verwandt, aber nicht wie eineiige Zwillinge. Vielleicht haben Sie, liebe Leser, noch eine andere Idee, weshalb Mozart diesen ja an sich nicht falschen Dreiklangstakt im D-dur-Konzert tilgte?
Ich bin mir nicht ganz sicher ob „beiläufig“ die rechte Bezeichnung für diesen Eintritt ist. Die Violine ist ein kleines zartes Instrument, mit der man spezielle Gefühle darstellen und ansprechen kann. Ja, es ist schön, dieser große Kontrast des eröffnenden Tuttis und dem schmachtenden, zärtlichen, gefühlvollen Eintritt der Violine. Das kann halt nur Mozart: diese geniale Idee, das Schein und das Sein in einen Violinkonzert-anfang einzubauen.