Mo­zart, Vio­lin­kon­zert D-dur, KV 218,
hrgs. v. Fer­di­nand David 1865,
A-Sm Rara 218/5

Man könn­te als Ur­text-Her­aus­ge­ber manch­mal ver­zwei­feln: Da bie­tet man der Mu­sik­welt einen ge­si­cher­ten No­ten­text, aber die­je­ni­gen, denen un­se­re ganze Ar­beit gilt, igno­rie­ren die neuen Er­kennt­nis­se für ihr Spiel und für ihren Un­ter­richt.

Ein Bei­spiel ge­fäl­lig? Neu­lich hörte ich einen jun­gen, sehr be­gab­ten ko­rea­ni­schen Gei­ger das D-dur-Kon­zert KV 218 (HN 680) von Mo­zart spie­len. Ab­ge­se­hen davon, dass er auf den zu­min­dest in der his­to­risch-in­for­mier­ten Auf­füh­rungs­pra­xis als „com­mon sense“ gel­ten­den Stan­dard, als Pri­ma­ri­us die Tut­ti­pas­sa­gen mit­zu­spie­len und das Or­ches­ter zu lei­ten, lei­der ver­zich­te­te, hör­ten wir im De­tail all jene klei­nen No­ten­feh­ler und sub­jek­ti­ven Be­ar­bei­tungs­er­gän­zun­gen, die letzt­lich auf Fer­di­nand Da­vids Erst­aus­ga­be von 1865 zu­rück­ge­hen.

Neh­men wir den Ein­stieg der So­lo­vio­li­ne in Takt 42. Nach wie vor spielt nicht nur unser Gei­ger – denn zäh hal­ten sich die Feh­ler der Alten – in etwa so:

Mo­zart, Vio­lin­kon­zert D-dur, KV 218, „SOLO“ (T. 42 ff.), Erst­aus­ga­be Breit­kopf & Här­tel 1865, hrsg. v. Fer­di­nand David

Kur­zer Vor­schlag und forte. Er spiel­te die Stel­le letzt­lich so, wie wir es von David Ois­trach ken­nen (an des­sen Ton und Verve er frei­lich nicht her­an­kam):

Bei ge­nau­er Lek­tü­re (m)einer Ur­text­aus­ga­be wird man fest­stel­len, dass es sich aber um keine kurze, son­dern um eine lange Vor­schlags­no­te zur ers­ten Note han­delt, die auf den Schlag ge­spielt wer­den muss. Über die an­ge­mes­se­ne Dy­na­mik wäre zu ver­han­deln. In Mo­zarts Au­to­graph sieht die Stel­le näm­lich wie folgt aus:

Mo­zart, Vio­lin­kon­zert D-dur, KV 218, „Solo“ (T. 42 ff.), Au­to­graph in Kra­kau,
Bi­blio­te­ka Ja­giel­lońska

Spielt man – kor­rekt – einen lan­gen Vor­schlag wirkt der Ein­stieg in hoher Lage doch gleich viel zärt­li­cher und nicht ganz so „hier komme ich“-auf­trump­fend à la Ois­trach. Und dann be­merkt man, dass die So­lo-Vio­li­ne keine dy­na­mi­sche Vor­schrift auf­weist: die bei­den be­glei­ten­den Tut­ti­vio­li­nen hin­ge­gen haben piano! Na­tür­lich: die (auch das erste Tutti) er­öff­nen­de Stel­le hat dank der Punk­tie­rung etwas Mar­sch­ar­ti­ges. Das kann man sich gut mit Pau­ken und Trom­pe­ten vor­stel­len. Aber es ist eine So­lo-Vio­li­ne in ziem­lich hoher Lage, zart be­glei­tet im piano. Ich meine: das ist eben kein Marsch, son­dern eine Art „Ein­spie­len“ oder „In­to­nie­ren“ eines ba­na­len D-dur-Drei­klangs, noch dazu mit so­zu­sa­gen lan­gem Auf­takt auf der ein­zi­gen Note e3. Quasi Musik, die „un­wich­ti­ger“ ist als alles, was da­nach kommt. Also kein Grund, be­reits hier so­lis­tisch auf­zu­trump­fen. Liebe Gei­ger: pro­biert das doch ein­mal etwas ge­mä­ßig­ter, viel­leicht im mez­zo­for­te und eher wie bei­läu­fig ge­spielt. Das je­den­falls lese ich aus Mo­zarts Au­to­graph her­aus.

Wir sehen im Au­to­graph üb­ri­gens exakt vor Ein­tritt der So­lo-Vio­li­ne eine Strei­chung Mo­zarts. Bei der In­ter­pre­ta­ti­on des Kon­zerts kann es nur hel­fen, sich zu fra­gen, was Mo­zart wohl be­wo­gen haben könn­te, die­sen un­be­glei­te­ten D-dur-Drei­klang­sauf­schwung nach­träg­lich (wo­mög­lich erst nach Ab­schluss der Nie­der­schrift) zu til­gen. So­bald man näm­lich dar­über spe­ku­liert, was mit die­ser Til­gung mu­si­ka­lisch wo­mög­lich bes­ser ge­wor­den ist, ver­steht man wie­der ein biss­chen mehr vom D-dur-Kon­zert – und von Mo­zart über­haupt. (Be­son­ders weil Mo­zarts Hand­schrift des Werks kos­ten­los und be­quem on­line zu­gäng­lich ist, gibt es ei­gent­lich keine Aus­re­de, sie in Vor­be­rei­tung der In­ter­pre­ta­ti­on nicht zu stu­die­ren.)

Ga­bri­el Banat gibt in sei­nem auf­schluss­rei­chen Vor­wort der Fak­si­mi­le-Aus­ga­be aller Vio­lin­kon­zer­te dazu einen in­ter­es­san­ten Hin­weis (The Mo­zart Vio­lin Con­cer­ti: A Facsi­mi­le Edi­ti­on of the Au­to­graphs. Mi­neo­la, New York 2015). Einen sol­chen Drei­klang­sauf­schwung vor (dem zwei­ten) Ein­tritt der So­lo­vio­li­ne hatte Mo­zart be­reits ein paar Wo­chen vor dem D-dur-Kon­zert ge­schrie­ben, näm­lich im ers­ten Satz des G-dur-Kon­zerts KV 216 (= zwei­ter So­lo­ab­schnitt, T. 51):

Mo­zart, Vio­lin­kon­zert G-dur, KV 216, „Solo“ (T. 51 ff.), Ur­text­aus­ga­be, G. Henle 2002,
hrsg. v. Wolf-Die­ter Seif­fert (HN 688)

Banat spe­ku­liert, ob Mo­zart diese „Wie­der­ho­lung“ sei­ner Idee mög­li­cher­wei­se pein­lich war, wes­halb er sie dann strich. An­de­rer­seits spielt die Vio­li­ne bei ihrem Auf­tritt auch im nach­fol­gen­den Kon­zert, A-dur KV 219 (T. 40), eben­falls einen auf­stei­gen­den Drei­klang. Alle drei Vio­lin-Ein­tritts­stel­len sind (bzw. im Falle von KV 218: waren) also in­ter­es­san­ter­wei­se ver­wandt, aber nicht wie ein­ei­ige Zwil­lin­ge. Viel­leicht haben Sie, liebe Leser, noch eine an­de­re Idee, wes­halb Mo­zart die­sen ja an sich nicht fal­schen Drei­klang­stakt im D-dur-Kon­zert tilg­te?

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2 Antworten auf »Zäh halten sich die Fehler der Alten. Zum Solo-Einstieg der Geige in Mozarts Violinkonzert in D-dur KV 218«

  1. krainer sagt:

    Ich bin mir nicht ganz sicher ob „beiläufig“ die rechte Bezeichnung für diesen Eintritt ist. Die Violine ist ein kleines zartes Instrument, mit der man spezielle Gefühle darstellen und ansprechen kann. Ja, es ist schön, dieser große Kontrast des eröffnenden Tuttis und dem schmachtenden, zärtlichen, gefühlvollen Eintritt der Violine. Das kann halt nur Mozart: diese geniale Idee, das Schein und das Sein in einen Violinkonzert-anfang einzubauen.

  2. Paul B sagt:

    „Ach, der Vorschlag – lang, kurz, laut, leise – irgendwie hat Mozart uns da eine kleine musikalische Schnitzeljagd hinterlassen, oder? Vielleicht ist es ja genau das, was ihn so spannend macht: Man kann tausendmal in den Urtext schauen und entdeckt doch immer wieder etwas Neues, über das man nachdenken kann.

    Vielleicht wäre Mozart ja selbst überrascht gewesen, wie wir heute über seine Noten knobeln. Oder er hätte gelacht und gesagt: ‚Ach, spielt es doch einfach so, dass es schön klingt.‘ 😄 Aber hey, gerade dieses Suchen und Diskutieren macht doch den Reiz aus, oder? Er wollte nicht, dass wir alle unsere Geigen wieder verkaufen

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