"Fi­na­le fu­rio­so" aus: Wil­helm Busch: Ein Neu­jahrs­kon­zert

Clara Schu­mann schreibt am 25. Mai 1854 mit kaum zu über­hö­ren­der Ver­zweif­lung in ihr Ta­ge­buch: „Liszt sand­te heute eine an Ro­bert de­di­zier­te So­na­te und ei­ni­ge andre Sa­chen mit einem freund­li­chen Schrei­ben an mich. Die Sa­chen sind aber schau­rig! Brahms spiel­te sie mir, ich wurde aber ganz elend. … Das ist nur noch blin­der Lärm – kein ge­sun­der Ge­dan­ke mehr, alles ver­wirrt, eine klare Har­mo­nie­fol­ge ist da nicht mehr her­aus­zu­fin­den! Und da muß ich mich nun noch be­dan­ken – es ist wirk­lich schreck­lich.“

Er­staun­lich – aber bei der von Clara Schu­mann als „blin­der Lärm“ be­zeich­ne­ten Musik han­delt es sich tat­säch­lich um Liszts h-moll-So­na­te. Mögen die ge­wal­ti­gen Aus­brü­che und har­mo­ni­schen Här­ten für manch einen Pia­nis­ten und Hörer in der Mitte des 19. Jahr­hun­derts schwer hin­nehm­bar ge­we­sen sein – heute gilt das Werk als einer der Gip­fel­punk­te der Kla­vier­mu­sik über­haupt. Auch im Ka­ta­log des G. Henle Ver­lags bil­det es schon lange einen wich­ti­gen Eck­stein, und dies so­wohl als Fak­si­mi­le-Aus­ga­be des Au­to­graphs als auch in Ge­stalt einer Ur­text-Edi­ti­on.

Beide Aus­ga­ben er­schie­nen erst­mals im Hen­le-Ju­bi­lä­ums­jahr 1973, aus An­lass des 25jäh­ri­gen Be­ste­hens des Ver­lags. Kein Ge­rin­ge­rer als Clau­dio Arrau konn­te da­mals ge­won­nen wer­den, dem Fak­si­mi­le ein Ge­leit­wort bei­zu­ge­ben.

Aber nichts ist für die Ewig­keit, selbst nicht in der Welt des Ur­tex­tes: Gut 40 Jahre nach den bei­den Ju­bi­lä­ums­aus­ga­ben ist es nötig, diese Ver­öf­fent­li­chun­gen auf den neu­es­ten Stand zu brin­gen. Zu Be­ginn des Jah­res 2015 wurde zu­nächst das Fak­si­mi­le neu auf­ge­legt. Manch einer wird sich fra­gen, was sich denn an einer Fak­si­mi­le-Aus­ga­be einer au­to­gra­phen Quel­le wird än­dern kön­nen. Nun, Liszt hat in sei­ner Hand­schrift nicht nur kor­ri­giert und ge­stri­chen, er hat auch ganze Pas­sa­gen nach dem ers­ten Notat ver­wor­fen, mit zu­recht­ge­schnit­te­nen Stü­cken No­ten­pa­pier über­klebt und diese neu be­schrie­ben. Die Über­kle­bun­gen wur­den in­zwi­schen ge­löst – und wir haben die Ge­le­gen­heit er­grif­fen, in un­se­rer neuen Fak­si­mi­le-Aus­ga­be erst­mals ab­zu­bil­den, was sich unter den Über­kle­bun­gen be­fin­det. Ar­raus Ge­leit­wort fin­det man na­tür­lich auch in der neuen Aus­ga­be – er­gänzt von einer wis­sen­schaft­li­chen Ein­lei­tung der Liszt-Ex­per­tin Mária Eck­hardt.

So bril­lant das alte Fak­si­mi­le schon war, in der neuen Re­pro­duk­ti­on sieht man noch mehr De­tails. Die fort­ge­schrit­te­ne Tech­nik macht’s mög­lich. Ich selbst durf­te mich davon über­zeu­gen, als ich im Vor­feld Pro­ofs un­se­rer Aus­ga­be mit dem Ori­gi­nal des Au­to­graphs in der New Yor­ker Pier­pont Mor­gan Li­bra­ry ab­ge­gli­chen habe. Man­cher ver­meint­li­che Stac­ca­to­punkt ent­puppt sich nun als Fleck im Pa­pier. Das neue Fak­si­mi­le ist wahr­lich ein Muss für jeden Fan der h-moll-So­na­te.

Die neuen Er­kennt­nis­se der Fak­si­mi­le-Aus­ga­be waren auch hilf­reich bei der Neu­be­ar­bei­tung der Ur­text-Edi­ti­on, die in der ers­ten Hälf­te 2016 im G. Henle Ver­lag er­schei­nen wird. Es galt zudem eine neue Quel­le zu be­rück­sich­ti­gen, eine Mo­ment­auf­nah­me aus dem Kla­vier­un­ter­richt Liszts. Er stu­dier­te die So­na­te u.a. mit sei­nem Schü­ler Árpád Szen­dy ein. Des­sen Un­ter­richts­ex­em­plar mit Ein­tra­gun­gen des Kom­po­nis­ten ist er­hal­ten und gibt an ei­ni­gen wich­ti­gen Stel­len wert­vol­le Hin­wei­se zur Aus­füh­rung. So fin­det sich etwa in T. 162, 164, 357, 359 sowie in T. 627 die An­ga­be ppp (in T. 625 von an­de­rer Hand pp), eine Ab­schat­tie­rung der Klang­far­be, die in der Auf­füh­rungs­tra­di­ti­on fest ver­an­kert ist, nicht zu­letzt durch die Aus­ga­be eines an­de­ren Liszt-Schü­lers, Emil von Sauer, der für die ent­spre­chen­den Takte una corda vor­schreibt.

Erst­aus­ga­be Breit­kopf & Här­tel: Un­ter­richts­ex­em­plar von Árpád Szen­dy mit Ein­tra­gun­gen von Liszt, T. 161–166

Aus­ga­be Edi­ti­on Pe­ters, her­aus­ge­ge­ben von Emil von Sauer, T. 161–164

Un­se­re re­vi­dier­te Aus­ga­be wird jene wich­ti­gen In­for­ma­tio­nen aus dem Szen­dy-Ex­em­plar do­ku­men­tie­ren und über­dies manch pro­ble­ma­ti­sche Stel­le aus­führ­li­cher als bis­her kom­men­tie­ren. Nur ein be­rühm­ter Streit­fall aus der Re­zep­ti­ons­ge­schich­te sei zum Schluss an­ge­führt. Den al­ler­letz­ten Klang der rie­si­gen So­na­te, ein ge­tupf­tes h in tie­fer Lage, no­tie­ren Au­to­graph und Erst­aus­ga­be fol­gen­der­ma­ßen:

Au­to­graph, letz­ter Takt

Erst­aus­ga­be Breit­kopf & Här­tel, letz­ter Takt

 

 

 

 

 

 

 

Aus­ga­be Edi­ti­on Pe­ters, her­aus­ge­ge­ben von Emil von Sauer, letz­ter Takt

Was genau aber mein­te Liszt mit der 8? Han­delt es sich le­dig­lich um eine Ok­ta­vie­rungs-an­ga­be, soll also die Ein­zel­no­te H2 er­klin­gen, oder ist ge­meint con 8, d.h. der letz­te Klang des Wer­kes wäre dem­nach die Ok­ta­ve H2/H1? Der oben zi­tier­te Emil von Sauer hält sich be­deckt und gibt diese ge­wis­se Un­schär­fe an den In­ter­pre­ten wei­ter:

Wir glau­ben, Liszt hatte einen Ok­tav­griff im Sinn, siehe auch T. 1: Die So­na­te be­ginnt kei­nes­falls mit Ein­zel­no­ten.

All dies wird in un­se­rer re­vi­dier­ten Aus­ga­be kom­men­tiert. Zudem konn­ten wir – 40 Jahre nach Ar­raus Ge­leit­wort zum Fak­si­mi­le – für un­se­re er­neu­te Be­schäf­ti­gung mit der h-moll So­na­te wie­der einen voll­ende­ten Meis­ter des Kla­viers ge­win­nen: Der Fin­gersatz der re­vi­dier­ten Ur­text­aus­ga­be stammt von Marc-An­dré Ha­me­lin! Fak­si­mi­le und Edi­ti­on laden somit zu einer in­spi­rie­ren­den Wie­der­be­geg­nung mit die­sem Werk ein.

 

http://​www.​youtube.​com/​watch?​v=uIU​Tc5d​9moc

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4 Antworten auf »Neues zu Liszts h-moll-Sonate«

  1. Dr. Michael Struck sagt:

    Lieber Herr Müllemann,
    herzlichen Dank für den hochinteressanten, anregenden Beitrag! Natürlich frage ich mich nun, was ich mit meiner schönen alten Henle-Faksimile-Ausgabe der Liszt-Sonate machen soll…
    Meine zweite Anmerkung betrifft den Schlusstakt, bei dem Sie das Kontra-H mit Unteroktave wiedergeben wollen: Wenn Sie schreiben, dass Sie “glauben”, so sei es gemeint, stellt sich mir natürlich die Frage, ob es in der Sonate oder anderen Klavierwerken Liszts aus jener Zeit eine Systematik gibt, die zwischen der einfachen Versetzung in die Ober- oder Unteroktave und der zusätzlichen Oktavierung (eine geschriebene Note oder Notenfolge soll als Oktave oder Oktavfolge erklingen) unterscheidet.
    Bei flüchtiger Durchsicht scheint es mir so, als gebe es im Autograph und im Druck der Liszt-Sonate drei eindeutige Notierungsvarianten:
    a. Oktavversetzung nach oben ==> eindeutig und unproblematisch
    b. Oktavversetzung nach unten ==> wird als “8 bassa—” bezeichnet
    c. auf S. 8 des Erstdruckes gibt es “con 8” (wohl auch aus Platzgründen für die zusätzlich mitzuspielende tiefere Oktave).

    Übrig bleiben dann die wenigen nur mit “8” bezeichneten einzelnen Bassnoten (nicht nur im Schlusstakt): Und sie stellen tatsächlich alle die gleiche Frage: Stehen sie für “in 8” oder “con 8”? Das heißt hat Liszt eher ein “in” oder ein “con” vergessen bzw. abbreviaturartig weggelassen? Geben Sie diese Stellen auch alle als Oktaven wieder, z. B. auf S. 7 des Erstdruckes das Kontra-A mit der “8”? Zumindest in einigen Fällen wäre ich vom Kontext her doch ein wenig skeptisch…

    Wie auch immer: Herzlichen Dank für Ihre Anregungen und herzliche Grüße
    Ihr
    Michael Struck

    • Lieber Herr Struck,

      besten Dank für Ihre ausführlichen Überlegungen dazu! Ja, in der Tat, ich hatte den Schlusstakt nur exemplarisch angeführt. Auch die “A”s auf S. 7 des Erstdrucks (T. 82, 87 f.) werden als Oktaven ediert – selbstverständlich mit dem gleichen mitgedachten Fragezeichen.

      Mit den besten Grüßen,
      Ihr
      Norbert Müllemann

  2. Elmo Cosentini sagt:

    Sehr geehrte Herren!
    Danke für Ihre interessanten Beobachtungen und die daraus resultierenden Annahmen.
    Natürlich weiß heutzutage niemand genau, was – den Schlußklang betreffend – Liszts Absicht war; vielleicht ist es jedoch hilfreich, sich die Stimmführung und Funktion des Basses der letzten acht Takte zu vergegenwärtigen.
    Das am 4. Viertel von Takt 753 mit einem Akzent angeschlagenene C1 soll zweifelsohne Beginn eines langen Orgelpunkts sein, der die folgenden Akkorde darüber trägt: a-Moll, F-Dur und auch den H-Dur-Klang, der zum 4. Viertel von Takt 756 zwar schon erklingt, aber insgesamt noch keine Auflösung darstellt, da das C1 darunter quasi imaginär bis zum Ende von Takt 759 weiter zu klingen hat; die letztendliche “Auflösung” der motivisch so wichtigen absteigenden Tonleiter, weiters die Auflösung der beschriebenen Dissonanz (H-Dur über C), und natürlich die Auflösung der ganzen Sonate findet also im Baß statt, und zwar mit dem alleine anzuschlagenden H2, da ja das C1 von Takt 753 auch nicht in Oktaven erklang.
    Mit besten Grüßen
    Elmo Cosentini, Wien

  3. Dr. Michael Beiche sagt:

    Werte Kombattanten,
    zur Frage der 8 kann ich aus meiner bisherigen Sichtung Schumann’scher Drucke wenig Eindeutiges beitragen. In op. 39 kommt zweimal dieser Fall vor, bei einem Dis und bei einem E; in beiden Fällen wird aus dem Kontext deutlich, dass hier die Unteroktave mitgespielt werden soll, also ein “con” gemeint ist. Ebenso klar scheint die Sache in op. 16 Nr. 8 zu sein, wo dreimal bei Cis, D und C nur eine 8 steht und in allen drei Fällen gemeint ist, dass die Unteroktave mitgespielt werden soll, wie es auch in allen relevanten Editionen notiert ist. Zweifelhaft scheinen mir die beiden Stellen in op. 9, Chiarina zu sein, beides Mal bei einem G (das übrigens am Schluss dieses Stückes zusammen mit der ausgestochenen Unteroktave erscheint). Nachdem ich zunächst ziemlich sicher war, dass hier auch gemeint ist, die Unteroktave mitzuspielen, bis ich inzwischen skeptisch und tendiere eher dazu, nur die untere Oktave zu notieren, also im Sinne von “in”. In der französischen Erstausgabe, zu der Schumann die Vorlage lieferte, steht jedesmal der Oktavklang (was natürlich ein Versehen des Stechers sein kann), während in der Alten Gesamtausgabe nur die untere Oktave notiert ist. (Clara dürfte allerdings keine Kenntnis von der französischen Ausgabe gehabt haben.) Insgesamt gesehen also eine verzwickte Situation, die von Editionsseite im jeweiligen Kontext entschieden werden muss.
    Beste Grüße aus Düsseldorf
    Michael Beiche

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